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Mit Napirai beziehe ich das kleine Gästezimmer und packe unsere wenigen Habseligkeiten aus. Ich besitze lediglich ein paar Kinderkleidchen und etwa 20 Stoffwindeln sowie eine Jeans und einen Pulli für mich. Alles andere habe ich in Kenia gelassen — Lketinga sollte ja glauben, dass ich zurückkomme. Er hätte mich sonst nie und nimmer mit unserer Tochter ausreisen lassen.

Vorsichtig bewege ich mich in dem schönen großen Haus, das mit gepflegten Möbeln, Pflanzen und Teppichen eingerichtet ist. Am meisten aber beeindruckt mich die Toilette, die ich nun an Stelle der stinkenden Plumpsklos benutzen kann. Meine Mutter fragt mich, was ich gerne essen möchte. Mir läuft beim Gedanken an einen saftigen Wurst-Käsesalat das Wasser im Mund zusammen und so äußere ich meinen Wunsch. Sie ist fast enttäuscht, da sie mir etwas Besonderes kochen wollte. Doch für mich ist dieses Essen nach vier Jahren Busch das Feinste, was ich mir vorstellen kann. Als ich bei den Samburu lebte, hatte ich nie die Gelegenheit, etwas derart Frisches zu essen. Außer Maismehl, manchmal Reis oder noch seltener ungewürztem Fleisch gab es ja nichts. Wie freue ich mich auf diesen Salat mit einem Stückchen frischem Brot!

Napirai ist inzwischen auch ganz neugierig und beobachtet aufmerksam die ihr unbekannten weißen Menschen. In der Zwischenzeit hat sie fast alle Bücherregale ausgeräumt und gräbt in der Pflanzenerde herum. All diese Dinge sind neu für sie.

Endlich gibt es Essen. Allein beim Anblick könnte ich vor Freude fast weinen. Wie viele Male hatte ich nachts von solch einer Mahlzeit geträumt! Jetzt kann ich sie einfach wünschen und nach einer halben Stunde steht sie vor mir.

Meine Mutter will natürlich gleich einen ausführlichen Bericht, wie mir mein neues Leben in Mombasa gefällt und wie mein Souvenirgeschäft am Diani-Beach angelaufen ist. Sie ist so froh, dass ich nach den drei Jahren im tiefsten Busch wieder etwas näher an der Zivilisation lebe. Nur versteht sie nicht, warum ich noch dünner bin als bei meinem letzten Besuch, da ich doch nun mehr Möglichkeiten habe, mich besser zu ernähren. Mich machen diese Fragen völlig fertig und noch trauriger. So gebe ich nur mechanische Antworten, die weit von der Wirklichkeit entfernt sind. Auf Grund ihrer fast naiven Unbekümmertheit wird es für mich noch schwerer, die Wahrheit zu sagen.

Meine Freude über das köstliche Essen hält nicht lange an. Nach einer halben Stunde habe ich höllische Magenkrämpfe und liege zusammengekrümmt auf dem Bett. Natürlich hätte ich mit meiner erst vor einem Jahr eingehandelten Hepatitis kein Fett essen sollen und erst recht keine kalte Kühlschrankkost. Schließlich habe ich jahrelang nur einfachste Gerichte aus dem Kochtopf gegessen. Doch angesichts der Möglichkeit, endlich wieder etwas Besonderes zu bekommen, habe ich einfach nicht mehr daran gedacht. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als mich zu übergeben, damit sich mein Magen wieder beruhigt.

Napirai wird von meiner Mutter gebadet, was ihr sehr gefällt. Sie planscht und quietscht vor Vergnügen und bekommt danach zum ersten Mal Pampers-Windeln angezogen. Meine Güte, ist das einfach! Anziehen, voll machen, ausziehen und wegwerfen. Unglaublich toll! Vorbei sind die Zeiten wie die in Nairobi, in denen ich die verkackten Windeln herumschleppen und sie am Abend mit der Hand in kaltem Wasser auswaschen musste, bis mir die Knöchel brannten.

Um acht Uhr bin ich todmüde. In Kenia gingen wir um diese Zeit meistens schlafen, da wir kein elektrisches Licht hatten und es früh dunkel wurde. Ich muss sowieso mit Napirai ins Bett gehen, denn sie ist es nicht gewohnt, allein zu schlafen. In der Manyatta im Hochland schlief sie immer bei mir oder bei der Großmutter und an der Küste zwischen mir und meinem Mann. Das ist für Samburu-Kinder normal. Sie brauchen den Körperkontakt. Im Bett überfallen mich Traurigkeit und auch Zweifel, ob ich das Richtige tue. Leise weinend schlafe ich ein.

Am nächsten Morgen stellt sich die große Frage: Was ziehen wir an? Es ist Oktober und für uns, die wir aus der Wärme Kenias kommen, extrem kalt. Napirai mochte Kleider noch nie und jetzt muss sie sogar Pullover und Jacke anziehen, die meine Mutter besorgt hat. Sie fühlt sich nicht wohl in all den Kleidungsstücken und versucht sie wieder auszuziehen. Doch das geht nicht. Es ist kalt und außerdem läuft man in der Schweiz angezogen herum.

Ein weiteres Problem ist der Hund, denn er scheint uns nicht zu mögen. Er knurrt, bellt und fletscht die Zähne, während er uns sehr genau beobachtet. Napirai hat sich aber schon an ihn gewöhnt und möchte ständig mit ihm spielen. Als Massai-Mädchen kennt sie offenbar keine Furcht. Ich hingegen bin fast hysterisch vor Angst, er könnte Napirai beißen. Während ich in ihm eine echte Gefahr sehe, ist er für meine Mutter und Hanspeter natürlich das liebste Tier und sozusagen Kinderersatz.

Die ersten zwei, drei Tage bin ich nur müde und erschöpft. Ständig denke ich daran, wie es wohl Lketinga gehen mag, so alleine mit dem Shop. Zwar hat er noch William als Hilfe, aber schließlich verstehen sie sich nicht mehr so gut, seit William uns vor einiger Zeit Geld gestohlen hat.

Zur Ablenkung spaziere ich an den folgenden Tagen zu der nahe gelegenen Landwirtschaftsschule und beobachte dort stundenlang die Kühe. Dabei finde ich eine gewisse innere Ruhe und fühle mich mit meiner Schwiegermama »nGogo« sehr verbunden. Wie wird sie reagieren, wenn sie erfährt, dass sie Napirai und mich nicht mehr sehen wird? Nach Samburu-Sitten würde meine Tochter eigentlich ihr gehören. Diese und ähnliche Gedanken gehen mir durch den Kopf.

Wenn meine Mutter und Hanspeter abends im Fernsehen Nachrichten anschauen, ziehe ich mich meistens mit Napirai in unser Zimmerchen zurück. All die schrecklichen Bilder vom Golfkrieg und dem Elend in der Welt erschüttern mich und ich kann sie kaum ertragen. Über vier Jahre hatte ich keinerlei Berührung mit Fernsehen oder anderen Medien. Ich lebte in einer Welt wie vor tausend Jahren und nun fühle ich mich von all den Nachrichten und Bildern völlig erschlagen. Doch einmal bleibe ich wie gebannt vor dem Fernseher sitzen. Es läuft eine Reportage über den Mauerfall in Deutschland. Ich kann nicht begreifen, was ich da sehe. Tatsächlich habe ich von diesem Ereignis nichts mitbekommen, obwohl es schon vor einem Jahr stattgefunden hat. Ich kann es kaum fassen! Die Mauer war früher bei uns zu Hause ständig ein Thema, da meine Großeltern väterlicherseits im Osten gelebt hatten. So wusste ich schon als Kind, wie verschieden die zwei deutschen Welten waren, da mein Vater viel erzählte, wenn er von einem Besuch aus der DDR zurückkam. Und jetzt sind sie wieder vereint! Alle Welt wusste es, nur bei uns im Busch war diese Nachricht nie angekommen. Angesichts dieser Bilder laufen mir gleich wieder die Tränen herunter. Für meine Mutter und ihren Mann ist es verständlicherweise komisch, wie ich reagiere. Auch die meisten Spielfilme erscheinen mir anders als früher. Oder habe nur ich mich so sehr verändert? Jedenfalls staune ich nicht schlecht über all die Nackt- und Liebeszenen in den heutigen Filmen. In Kenia wird öffentlich nicht einmal geküsst oder auch nur Händchen gehalten, ganz zu schweigen davon, dass bei den Samburu überhaupt nicht geküsst wird. Mir wird allmählich klar, wie puritanisch ich in den vergangenen vier Jahren geworden bin.

Nach ein paar Tagen meint meine Mutter, ich solle mir endlich etwas Neues zum Anziehen kaufen. So mache ich mich auf den Weg, während sie auf Napirai aufpasst. Die vielen Kleider und Waren in den voll gestopften Läden machen mich unsicher. Ich weiß nicht recht, was zu mir passt, und so kaufe ich mir Leggins, die anscheinend gerade in Mode sind, und einen Pulli dazu. Es kommt mir schrecklich teuer vor. Für das gleiche Geld hätte ich in Kenia mindestens drei oder vier Ziegen kaufen können oder eine wunderschöne Kuh.

Zu Hause präsentiere ich das Gekaufte meiner Mutter, die erschrocken feststellt, dass ich in diesen Leggins unmöglich auf die Straße gehen könne. Ich sei viel zu dünn und wirke in dem Aufzug fast krank. Mein kleiner neu gewonnener Stolz über die hübschen Sachen ist dahin und ich fühle mich sehr hässlich. Erschrocken stelle ich fest, dass ich in dieser »weißen« Welt sehr empfindlich geworden bin. In meiner Welt in Kenia unter den Afrikanern war das ganz anders. Da musste ich alles allein machen und organisieren. Immer deutlicher wird mir bewusst, wie sehr ich mich in den Jahren verändert habe. Hier in Europa vergeht die Zeit schnell und vieles ist für mich neu und unbekannt. In Afrika läuft alles noch gemächlich ab und die Tage erscheinen unendlich viel länger. Was ist nur aus der einst so selbstbewussten Geschäftsfrau geworden? Eine abgemagerte Heimatlose mit einem kleinen Kind, die nicht einmal den Mut hat, sich ihrer Mutter anzuvertrauen!