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Nach einer Woche jedoch entscheidet das Schicksal für mich. Wir sind gerade beim Abendessen, als das Telefon klingelt. Meine Mutter nimmt den Anruf entgegen und sagt mehrmals nur »Hallo, ja hallo«, dann legt sie auf. Sie meint, es habe sich so angehört, als sei die Verbindung von weit her gekommen, aber niemand habe sich gemeldet. Mit schweißnassen Händen starre ich meine Mutter ungläubig an. Sie lacht und sagt: »Schau nicht so erschrocken! Es wird sicher dein Mann sein, der sich melden möchte. Freu dich doch!«

Mir wird schlecht vor Aufregung und Angst. Natürlich hatte ich die Telefonnummer dort gelassen. Sophia, meine italienische Freundin, hatte mich darum gebeten. Wenn Lketinga im Shop Probleme hätte, wollte sie mich anrufen, da er noch nie in seinem Leben telefoniert hat. Auch ihr hatte ich nichts erzählt. Niemanden hatte ich über meine Fluchtpläne ins Vertrauen gezogen, aus Sorge, es würde schief gehen. Und jetzt das! Wie gebannt starre ich auf das Telefon, doch im Moment bleibt es stumm. Meine Mutter meint, es sei sicher nichts Schlimmes, ich solle doch weiter essen. Der Appetit ist mir jedoch vergangen. Stattdessen überlege ich fieberhaft, wie ich mich am Telefon verhalten soll. Und schon klingelt es wieder. Ich solle hingehen, fordert mich meine Mutter freudig auf. Aber ich kann mich nicht bewegen. Panisch schaue ich zu, wie sie den Hörer abhebt. Nach einem freudigen »Yes« winkt sie mich ans Telefon. Mechanisch gehe ich hin, halte den Hörer ans Ohr und erkenne sogleich Sophias Stimme. »Hallo, Corinne, how are you? I'm here together with your husband Lketinga. Er möchte unbedingt wissen, wie es seiner Frau und seinem Kind geht und wann ihr zurückkommt nach Kenia. Soll ich ihn dir geben?«

»No wait!«, schreie ich in den Hörer. »Ich möchte erst mit dir sprechen. Sophia, was ich dir jetzt sage, ist sehr schwer für Lketinga, für dich, für mich, für alle. Wir kommen nicht zurück! Ich halte es mit meinem eifersüchtigen Ehemann einfach nicht mehr aus. Du hast es ja zum Teil selbst erlebt. Ich konnte es euch vorher nicht sagen, sonst hätten wir nie mehr ausreisen können.« Hinter mir höre ich Besteck auf den Boden fallen.

»Bitte, bitte, Sophia, erkläre es Lketinga. Ich werde ihm von hier aus mit dem Shop und dem Auto helfen, so gut es geht. Wenn er alles verkauft, ist er ein reicher Mann. Er kann alles haben, auch die Bankkonten, alles außer unserer Tochter Napirai. Ich werde versuchen, mit ihr ein neues Leben aufzubauen.« Sophia ist spürbar erschüttert und fragt, ob ich nicht mit meinem Mann sprechen wolle, doch das Geld sei gleich aufgebraucht. Ich notiere die Telefonnummer und sage ihr, dass ich in zehn Minuten zurückrufen werde, um mit Lketinga zu sprechen. Erschöpft lege ich auf, drehe mich um und sehe meine erstarrte Mutter und Hanspeter an. Im selben Moment schießen mir die Tränen in die Augen und dann heule ich hemmungslos. Noch eine ganze Weile sitze ich neben dem Telefon. Ich fühle mich todunglücklich und gleichzeitig ein wenig erleichtert, weil nun meine Mutter und in diesen Minuten wohl auch Lketinga endlich Bescheid wissen.

Ich höre meine Mutter unsicher fragen: »Ja, wie stellst du dir das denn vor? Ich dachte immer, du seiest bis auf ein paar Kleinigkeiten glücklich. Du hast doch erst dein schönes Geschäft mit deinem letzten Geld eröffnet. Außerdem hast du in der Schweiz keine Aufenthaltsgenehmigung mehr!« Jetzt hat auch sie Tränen in den Augen. Sie tut mir aufrichtig Leid. Verzweifelt erinnere ich mich, dass ich bis an mein Lebensende mit meiner großen Liebe eine glückliche Familie bilden und auf keinen Fall meiner Tochter den Vater nehmen wollte.

Schließlich ist sie das Kind dieser überwältigenden Liebe. Aber ich habe einfach keine Kraft mehr und weiß, dass ich mich gegen den Tod und für das Leben entscheiden muss. Napirai ist noch nicht einmal zwei Jahre alt und braucht mich. Ich habe zu viel durchgemacht, von den Malaria-Schüben während der Schwangerschaft, der Geburt im Buschhospital und von unserer Isolation während der ansteckenden Hepatitisinfektion ganz zu schweigen. Nein, mein Mädchen gebe ich nicht mehr her. Und ich will leben — für sie! Sie soll später nicht verheiratet werden, nachdem sie kurz zuvor beschnitten wurde. Nein, das will ich ihr ersparen. Der Preis wird ein Aufwachsen ohne ihren Vater in einer weißen Welt sein.

»Kann ich nach Kenia zurückrufen? Lketinga ist sicher ganz verstört«, frage ich meine Mutter, anstatt eine Antwort zu geben, weil ich im Moment sowieso keine habe. Ich muss die Nummer drei Mal anwählen, bevor eine Verbindung zustande kommt. Zuerst höre ich eine afrikanische fremde Stimme, dann wieder Sophia und schließlich kurz darauf Lketinga. »Hallo my wife, why you not come back to me? I'm your husband! I really love you and my baby. I cannot stay without you and Napirai. I don't want another wife! You are my wife.«

Weinend erkläre ich ihm, dass er mich zu viele Male verletzt habe mit seinem unberechenbaren und krankhaft eifersüchtigen Verhalten. »Zuletzt kam ich mir wie eine Gefangene vor. So kann und will ich nicht leben. Und als du mir dann noch vorgeworfen hast, dass Napirai nicht deine Tochter ist, waren auch meine letzte Liebe und Hoffnung zerstört. Lketinga, ich kann nicht mehr, aber ich helfe dir bei allem, so gut es geht. Ich werde an James schreiben, dass er kommt, um dir zu helfen. Ich werde versuchen, dir alles in einem Brief zu erklären. Es tut mir so Leid.«

Er versteht mich nicht und meint nur verunsichert und halb lachend: »I don't know what you tell me. My wife, I wait for you and my child. I'm sure you will come back to me.« Dann knackt es in der Verbindung und die Leitung ist tot.

Ich bin wie betäubt, gehe zu meiner Napirai, nehme sie vom Babystuhl und ziehe mich völlig ausgebrannt in unser Zimmer zurück, weil ich für heute keine klaren Gedanken mehr fassen kann. Meine Mutter und auch Hanspeter verstehen das anscheinend und sagen nichts dazu. Napirai spürt, wenn es mir nicht gut geht, und ist dann immer besonders anhänglich. Sie saugt sich wohlig an meiner Brust fest, während sie sie mit einer Hand knetet.

Als Napirai schläft, beginne ich Briefe zu schreiben.

Lieber Lketinga

Ich hoffe, du kannst mir verzeihen, was ich dir jetzt mitteilen muss: Ich komme nicht mehr zurück nach Kenia. Inzwischen habe ich viel über uns nachgedacht. Vor mehr als dreieinhalb Jahren habe ich dich so sehr geliebt, dass ich bereit war, mit dir in Barsaloi zu leben. Ich habe dir auch eine Tochter geschenkt. Aber seit dem Tag, an dem du mir vorgeworfen hast, dass dieses Kind nicht von dir ist, habe ich nicht mehr dasselbe für dich empfunden. Auch du hast dies bemerkt.

Nie habe ich jemanden anderen gewollt und habe dich nie belogen. Aber in all diesen Jahren hast du mich nie verstanden, vielleicht auch deshalb, weil ich eine »Mzungu« bin. Meine Welt und deine Welt sind sehr verschieden, doch ich dachte, eines Tages stehen wir zusammen in der gleichen.

Aber jetzt, nach der letzten Chance, die wir in Mombasa hatten, sehe ich ein, dass du nicht glücklich bist und ich erst recht nicht. Wir sind immer noch jung und können so nicht weiterleben. Im Moment wirst du mich nicht verstehen, doch nach einiger Zeit wirst auch du sehen, dass du mit jemandem anderen wieder glücklich wirst. Für dich ist es leicht, eine neue Frau zu finden, die in der gleichen Welt lebt. Aber suche jetzt eine Samburu-Frau, nicht wieder eine Weiße, wir sind zu verschieden. Du wirst eines Tages viele Kinder haben. Ich habe Napirai mit mir genommen, denn sie ist das Einzige, was mir geblieben ist. Auch weiß ich, dass ich nie mehr Kinder haben werde. Ohne Napirai könnte ich nicht überleben. Sie ist mein Leben! Bitte, bitte Lketinga, vergib mir! Ich bin nicht länger stark genug, um in Kenia zu leben. Dort war ich immer sehr allein, hatte niemanden, und du hast mich wie eine Verbrecherin behandelt. Du merkst es selber nicht, denn dies ist Afrika. Noch einmal sage ich dir, ich habe nie etwas Unrechtes getan.