»Bis ans Ende der Welt, gnädigster Herr.« rief Rudolf, da er für diesen jungen Heerführer, der ihm seines Rufes so würdig schien, eine nie gekannte Begeisterung fühlte. »Gehen wir also, mein Herr,« sprach er; »Ihr seid ein guter Ratgeber, das haben wir eben erfahren; morgen werden wir sehen, wie Ihr bei der Ausführung seid.«
Inzwischen erdröhnten bei jedem Schritte, mit dem sich die kleine Truppe Lens näherte, die Kanonen immer lauter. Der Prinz bewaffnete sich mit dem Blicke eines Geiers. Man hätte geglaubt, er besitze die Kraft, durch den Vorhang von Bäumen zu dringen, der sich vor ihm ausbreitete und den Horizont begrenzte. Endlich vernahm man den Kanonendonner so nahe, als befände man sich wirklich nicht mehr weiter als etwa eine Meile vom Schlachtfelde entfernt. In der Tat bemerkte man bei der Biegung des Weges das kleine Dorf Annay. Die Bauern waren höchlich bestürzt; das Gerücht von den Grausamkeiten der Spanier erfüllte jeden mit Entsetzen; schon hatten 5 sich die Weiber geflüchtet und nach Vitry zurückgezogen, nur einige Männer blieben noch zurück. Als sie den Prinzen erblickten, eilten sie herbei, da ihn einer aus ihnen erkannt hatte. »Ach, gnädigster Herr, kommen Sie, um all diese Räuber von Spaniern und Lothringern zu vertreiben?«
»Ja.« erwiderte der Prinz, »wenn du mein Führer sein willst.«
»Recht gern, gnädigster Herr. Wohin soll ich Ew. Hoheit führen?«
»Auf irgendeinen hochgelegenen Punkt, von wo ich Lens und seine Umgebungen überblicken kann.«
»In dieser Beziehung habe ich, was Sie bedürfen.«
»Kann ich dir trauen? Bist du ein guter Franzose?«
»Ich bin ein alter Soldat von Rocroy, gnädigster Herr.«
»Da hast du,« sprach der Prinz, indem er ihm seine Börse reichte, »das nimm für Rocroy. Willst du ein Pferd oder gehst du lieber zu Fuß?«
»Zu Fuß, gnädigster Herr, zu Fuß; ich habe stets bei der Infanterie gedient. Überdies denke ich, Ew. Hoheit auf Wegen zu führen, wo Sie wohl selbst absteigen müssen.« »Komm' also,« sprach der Prinz, »und laß uns keine Zeit verlieren. Der Landmann machte sich auf und lief vor dem Pferde des Prinzen her.
Nach Verlauf von zehn Minuten kam man zu den Ruinen eines alten Schlosses, welche den Gipfel eines Hügels krönten, von wo aus man die ganze Gegend überblickte. Kaum eine Viertelstunde entfernt, gewahrte man das aufs äußerste gebrachte Lens, und vor Lens die ganze feindliche Armee. Der Prinz übersah mit einem einzigen Blicke die ganze Strecke von Lens bis Vismy; und in einem Momente entwickelte sich in seinem Geiste der ganze Plan der Schlacht, welche am nächsten Tage Frankreich zum zweiten Male vor einer Invasion bewahren sollte. Er nahm einen Bleistift, riß ein Blatt aus seinem Notizbuch und schrieb:
»Lieber Marschall! In einer Stunde wird Lens in feindlichen Händen sein. Kommt mit dem ganzen Heere zu mir. Ich werde in Vendin sein, um es seine Stellung einnehmen zu lassen. Morgen wird Lens wieder gewonnen und der Feind geschlagen sein.«
Dann wandte er sich zu Rudolf und sagte: »Geht, mein Herr, reitet, so schnell Ihr es vermöget, und bringt Herrn von Grammont diesen Brief.« Rudolf verneigte sich, nahm den Brief, stieg schnell den Berg hinab, schwang sich auf sein Pferd und sprengte von hinnen. Eine Viertelstunde darauf war er bei dem Marschall.
Ein Teil der Truppen war bereits angekommen; die anderen erwartete man mit jedem Augenblicke. Der Marschall von Grammont stellte sich an die Spitze all der Infanterie und Kavallerie, die er zur Verfügung hatte, und begab sich auf die Straße von Vendin, wahrend er den Herzog von Chatillon zurückließ, daß er die übrigen erwarte und nachführe. Die Artillerie war zum Aufbruch bereit und setzte sich in Bewegung. Es war sieben Uhr abends, als der Marschall an dem bezeichneten Orte ankam, wo ihn der Prinz bereits erwartete. Wie er es vorausgesehen, so war Lens gleich nach Rudolfs Aufbruch in die Macht der Feinde gefallen. Um neun Uhr war es finstere Nacht. Man setzte sich schweigend in Bewegung; der Prinz führte die Kolonne. Als das Heer über Annay hinausgekommen war, sah es vor sich Lens; zwei bis drei Häuser standen in Flammen, und ein dumpfes Getöse, womit sich der Todeskampf einer im Sturm eroberten Stadt kundgab, drang bis zu den Soldaten. Der Prinz wies jedem seinen Posten an; der Marschall von Grammont mußte die äußerste Linke einnehmen und sich auf Mericourt stützen; der Herzog von Chatillon bildete das Zentrum; der Prinz, der den rechten Flügel befehligte, wollte vor Annay bleiben. Die Bewegung wurde ganz im stillen und mit der größten Pünktlichkeit ausgeführt. Um zehn Uhr hatte jeder seine Stellung eingenommen. Um halb elf Uhr besuchte der Prinz die Posten und erteilte für den nächsten Tag seine Befehle, Der Prinz teilte den Grafen von Guiche seinem Vater zu und behielt Bragelonne bei sich; allein die zwei jungen Männer wünschten, die Nacht miteinander zuzubringen, was ihnen auch zugestanden wurde. Man errichtete für sie ein Gezelt neben dem des Marschalls. Wiewohl der Tag ermüdend gewesen war, so fühlte doch weder der eine noch der andere ein Bedürfnis zum Schlafe.
Kehren wir nun für eine Weile zu unseren Freunden nach Paris zurück.
Die zweite Zusammenkunft der vormaligen Musketiere war nicht so pomphaft und bedrohlich wie die erste. Athos dachte bei seinem stets überlegenen Verstande, die Tafel sei das schnellste und sicherste
Vereinigungsmittel; und in dem Momente, wo seine Freunde aus Furcht vor seiner Überlegenheit und Nüchternheit nicht von einer jener guten Mahlzeiten zu reden wagten, die sie einst im Pomme-du-Pin oder in Parpaillot eingenommen, machte er zuerst den Vorschlag, sich bei einem wohlbesetzten Tische einzufinden, wo sich jeder ohne Rückhalt seinem Charakter und Manieren überlassen sollte, um das gute Einvernehmen zu unterhalten, das ihnen einst den Namen der Unzertrennlichen gegeben habe.
Man tafelte vorzüglich und unterhielt sich mit dem Erzählen der Abenteuer jedes der vier alten Freunde, als plötzlich an die Türe geklopft wurde. »Herein!« rief Athos. »Meine Herren!« sprach der Wirt, »es ist ein Mann hier, der große Eile hat, und einen von ihnen zu sprechen wünscht.«
»Wen?« fragten die vier Freunde.
»Denjenigen, der sich Graf de la Fere nennt.«
»Das bin ich!« rief Athos.
»Und wie heißt dieser Mann?«
»Grimaud.«
»Ha,« sagte Athos erbleichend, »er kommt schon zurück? Was ist Bragelonne zugestoßen?«
»Laßt ihn eintreten.« sprach d'Artagnan. Doch Grimaud war bereits über die Treppe gestiegen und harrte auf dem Vorplatze; er stürzte in das Zimmer und verabschiedete mit einem Winke den Wirt. Der Wirt versperrte die Türe wieder; die vier Freunde waren gespannt. Grimauds Aufregung, seine Blässe, der Schweiß auf seiner Stirn, der Staub auf seinem Gewande, alles zeigte an, daß er eine wichtige und schreckenvolle Botschaft überbringe. »Meine Herren,« sprach er. »jene Frau, über die wir einst in Armentieres Gericht gehalten haben, hatte ein Kind, dieses Kind ist ein Mann geworden; die Tigerin hatte ein Junges, der Tiger ist groß gewachsen und kommt zu ihnen; seien Sie auf der Hut.« Athos blickte schwermütig lächelnd auf seine Freunde, Porthos suchte sein Schwert an seiner Seite, das jedoch an der Wand hing, Aramis faßte sein Messer an, d'Artagnan richtete sich empor und rief aus: »Was willst du damit sagen?«
»Daß Myladys Sohn England verlassen hat, in Frankreich ist und nach Paris kommt, wenn er nicht schon hier ist.«
»Zum Teufel!« rief Porthos, »weißt du das gewiß?«
»Gewiß,« entgegnete Grimaud.
Ein langes Schweigen folgte. Grimaud war so atemlos und erschöpft, daß er auf einen Stuhl sank. Athos füllte ein Glas mit Champagner und reichte es ihm. »Nun denn,« sprach d'Artagnan, »wenn er auch wirklich lebt und nach Paris kommt; wir haben schon andere gesehen; er möge nur kommen.«
»Ja,« versetzte Porthos und liebkoste sein an der Wand hängendes Schwert; »er komme, wir erwarten ihn.«