Ich, Sabinus Julius, Freigelassener und ehemals Leibarzt des großen Julius Cäsar, glaube zu wissen, daß dieses Frühjahr mein letztes sein wird. Cassia will es mir ausreden, die anderen ahnen nichts. Doch ein Arzt sollte die Stunde kennen, die ihm bestimmt ist oder er ist ein Schwätzer. Ich habe in Pergamon viel gelernt.
Schwäche füllt meine Adern mit Blei, lähmt die Sehnen und ermüdet den Willen. Ist das eine Krankheit, ist es das Alter, ist es eine unwissentlich verzehrte Giftpflanze? Gleichviel. Wenn ich vor meinem Tod noch reden will, muß es bald sein. Ich glaube: Es muß heraus. Sieben Jahre sind genug und zuviel.
Ich trete auf die Terrasse, atme tief die Düfte der Nacht. Meine Augen wandern zum Himmel, zur roten Mondsichel. Was wird werden? Gibt es ein Zurück? Hätte ich früher sprechen sollen? Fragen ohne Antwort.
Mit niemandem darüber reden zu können ist bedrückend; ich weiß heute, weshalb er mir das Vergessen empfahl. Selbst wenn ich mein Versprechen bräche wer fände Rat? Es gibt keinen, die einzige Folge wäre Hoffnungslosigkeit. Besser, wenn den anderen mein Wissen erspart bleibt. Etwas nicht zu wissen ist bisweilen segensreich. Jeder Arzt kennt diesen Grundsatz. Indes gilt er auch für die Enkel und Urenkel? Gilt er erst recht vor dem ewigen Urteil der Geschichte? Oder wird man mich dereinst einen Feigling schimpfen?
Vielleicht gibt es einen dritten Weg. Ich verwalte das Archiv des Jupitertempels. Man könnte die Niederschrift all meiner Erlebnisse in die Akten schmuggeln. Irgendwann wird man sie lesen und dann... für ein Märchen, halten. Heute würde mein Wort geglaubt, aber die Künftigen kennen mich nicht. Hat das somit Sinn? Man muß es durchdenken.
Wieder brüllt der Tucus aus den Schluchten des Weißen Berges. Meinem ungeschulten Ohr scheint es, als ob er sich entfernt; das Tier hat wohl erkannt, daß hier keine leichte Beute zu finden ist. Morgen werden die Jäger aufbrechen und nach seiner Fährte suchen. Gekochtes Tucusfleisch schmeckt zarter als die feinste Delikatesse, aber die Bestie ist gefährlich wie ein ganzes Rudel germanischer Wölfe.
Die Müdigkeit in mir ist stark und schwach zugleich, denn Neugier und Alter kämpfen um die Herrschaft. Hinlegen? Wenn ich schlaflos liege, wird Cassia alsbald erwachen. Es ist besser, wenn wenigstens sie sich ausruht. Primus und Julia beanspruchen sie ohnehin zu sehr. Und schon am Morgen werden die Kranken unser Haus von neuem belagern.
Vorderhand ist sie meine einzige Hilfe, denn Cäsonius muß noch zuviel lernen. Er ist freilich nicht dumm ... Es wäre mir ja lieber, mein Wissen meinem Sohn zu Vererben; doch ich fühle, die Zeit fließt mir davon. Mag es also ein Freigelassener sein. Auch ich war einmal Sklave. Die ganze Wahrheit darf ich Cäsonius nicht sagen, sowenig wie meinem Freund Marcus Verus oder meiner geliebten Cassia. Wozu ihnen den Schlaf rauben?
Daß Marcus Verus keine Erklärung für das seltsame Ereignis fand, wundert mich nicht. Zeitlebens war er Soldat ein guter Soldat, der es immerhin bis zum Tribun und Ortskommandanten von Taltesa brachte doch nie ein grübelnder Sucher. Ich bin in jeder Beziehung sein Gegenteil. Ich lernte bei den Griechen die Logik.
Das ist es eben.
Ich glaube nur, was ich sehe; noch nie aber sah ich einen Gott. Wenn es Götter gibt, müssen sie irgendwie... anders sein. Nicht wie jene. Können göttergewollte Gesetze überhaupt existieren? Cäsars Hausbibliothekar meinte einmal, mit solchen Ansichten wäre ich bei Spartacus willkommen gewesen. Das mag zutreffen.
Nein, wir sind damals nicht gestorben, wie Marcus Verus und die meisten annehmen. Dies ist nicht die Welt der Toten. Mancher von uns verunglückte seither und starb. Kann ein Toter zum zweitenmal sterben? Außerdem fühlen wir uns so wie früher. Der Puls klopft, ich atme, ich denke, Kinder werden geboren... Das soll der Tod sein? So weit denkt zum Glück
niemand. Die anderen halten es für Zauberei, für Dämonenwerk. Vielleicht würde ich das trotz aller Logik ebenfalls geglaubt haben...
Doch ich weiß, was wirklich geschah. Wenn mein Gewissen mir erlaubte zu sprechen, könnte ich eine ungeheuerliche Geschichte erzählen. Ohne Beweise ist sie eine Sage, fast ein Märchen. Aber erschreckend logisch.
Angenommen, ich entschlösse mich dazu, sie aufzuzeichnen was wäre zu schreiben?
2
Damals kämpften die Legionäre gegen die letzten versprengten Scharen der aufständischen Galicier. Obgleich der Krieg in den Pyrenäen längst zu unseren Gunsten entschieden war, hatte die Provinzialregierung im fernen Tarraco[3] der Siedlung Taltesa einen Offizier als Ortskommandanten vorgesetzt. Erst nach der Befriedung der Region würde es wieder Zivilbeamte geben. Das konnte noch Jahre währen.
All das kam mir zupaß. Zwar hatte ich sämtliche Spuren sorgsam verwischt, und sicherlich suchte niemand ausgerechnet im entlegenen Hispanien den flüchtigen Leibarzt Cäsars; doch in dem Augenblick, da ich einen festen Wohnsitz erwarb, würden die zuständigen Beamten Fragen stellen und eventuell Nachforschungen anstellen falls ihnen nämlich meine Antworten ungenügend erschienen. Den vom Vorgänger übernommenen Amtsschreiber aber forschte niemand aus. Er gehörte sozusagen zum Inventar.
Zum Glück fragte Tribun Marcus Verus wenig, als ich ihn um den frei gewordenen Posten ersuchte. Er glaubte mir, daß ich von Pergamon käme. Mißhelligkeiten mit Vorgesetzten waren ein begreifliches Motiv, fortzugehen; und daß ich darüber den
Mund hielt, galt in den Augen eines Soldaten sogar als ein Pluspunkt. Obendrein tat ich einiges gegen seine Leiden ein aus Germanien mitgebrachtes Rheuma und schlecht verheilte Kriegswunden und sicherte mir damit sein Wohlwollen. Er wunderte sich jedenfalls nie über meine medizinischen Kenntnisse und glaubte, ich hätte den pergamenischen Ärzten Tricks abgesehen.
Ich hatte Lohn und Brot und ein Zuhause.
Eines Frühsommertags waren Verus und ich dabei, einen Weinkrug zu leeren und von alten Zeiten zu träumen. Da meldete der diensttuende Legionär Optimus Taurus einen Fremden.
Natürlich betrachtete ich jeden Fremden, der sich nach Taltesa verirrte, voller Mißtrauen. Octavianus Augustus suchte die letzten Mittäter der Verschwörung gegen seinen Stiefvater; und jedermann wußte, daß zu ihnen ein gewisser Sabinus Julius, Cäsars Leibarzt, gehört hatte. Freilich verloren sich dessen Spuren in Campanien. Wie weit trieb Roms neuer Diktator seine Nachforschungen? Zwar wußte außer Cassia kein Mensch in Taltesa, daß der Amtssekretär Rufüs früher einmal Sabinus Julius geheißen hatte. Aber wenn es ein böser Zufall wollte, drohte mir Gefahr.
Verus’ Gedanken liefen einen anderen Weg. Ich las sie auf seinem Gesicht. Man munkelte, eine Finanzrevision stehe ins Haus. Der Tribun sollte ihr besorgt entgegensehen. Fremde Neugierige eventuelle Spione der Provinzialverwaltung mußten ihm daher von vornherein mißfallen. Aber Weitsicht war nie seine Stärke, und ich ahnte nicht, was er plante. Zumindest nichts Durchdachtes.
»Herein mit ihm!« sagte er zu dem Legionär.
Der Fremde verharrte an der Tür und riß die Hand zum römischen Gruß empor. »Ich grüße dich, Oberst Marcus Verus, Statthalter der blühenden Stadt Taltesa!«
Taltesa war vom Stadtrecht ebensoweit entfernt wie wir von der Unsterblichkeit, genausowenig besaß mein Gönner den kleidsamen Amtstitel eines Statthalters; doch dergleichen Schmeichelei gehörte zum Ritual eines Bittstellers.
»Man nennt mich Durgal.«
»Ich grüße dich, Durgal«, murrte mein Dienstherr, ohne sich zu erheben, und betrachtete ihn abschätzend.
Durgal war von durchschnittlicher Gestalt, etwas füllig, äußerlich sonst unauffällig. Seine Redeweise hingegen solch ein Latein hatte ich noch nirgends gehört, obgleich Cäsars Gesprächspartner aus allen Teilen der Welt gekommen waren. Indes war der Akzent nur das eine. Viel eigentümlicher schien mir, daß die Worte irgendwie... eintönig klangen: fast so, als läse Durgal einen Text vom Blatt, ohne seinen Inhalt zu kennen.