Die Cystalla duftet immer stärker. Sie verdrängt meine Träume von Hispanien. Für diese Generation und für die nächsten ist es das beste, gar nicht mehr zurückzudenken und nur noch nach vorn zu schauen. Wir müssen in allem neu beginnen, da bleibt kein Platz für Durgal. Ich werde also nicht sprechen, sondern schreiben. Gleich heute abend werde ich beginnen. Erst die Urenkel sollen erfahren, was tatsächlich geschah. Für uns gibt es Wichtigeres. Und wenn unsere Ururenkel die Heimat ernstlich suchen, dann werden sie sie auch finden. Notfalls ohne Durgal.
»Kannst du nicht schlafen?«
Ich habe Cassia nicht kommen hören. Besorgt blickt sie mich an. Mir scheint, in ihren Locken ist eine Spur Grau. Ja, wir werden alt. Es ist Zeit, den Stab an die Jüngeren abzugeben.
»Ich wollte den Sonnenaufgang sehen«, lüge ich. »Wie geht es den Kindern?«
»Sie schlafen. Sehen wir uns den Sonnenaufgang an.« Ihr Lächeln verrät mir, daß sie mich durchschaut. Womöglich weiß sie längst die Wahrheit. Ich werde sie nie danach fragen. Es ist besser so.
Feuerfarben steigt die Sonne über die Berge, hüllt den Horizont in ein flammendes Meer. Ein neuer Tag bricht an in unserer neuen Heimat.
Die Söhne des Feuers
15. Julius 832 a. u. c.[4]
Der Raum wurde nur von zwei Öllämpchen erhellt, so daß die Unzahl der Aktenregale an den Wänden im Halbdämmer versank. Trotzdem wurde hier gelesen, geschrieben und noch öfter debattiert.
Daß die hier Arbeitenden ihre Augen ruinierten, ließ den seit drei Wochen herrschenden Kaiser Titus Flavius kalt; ihm ging es um Geheimhaltung. Ein Gespräch zu belauschen war ausgeschlossen. Vor einem Menschenalter, zu Lebzeiten des Kaisers Tiberius, hatte ein Architekt kopfschüttelnd dieses Zimmer mit einer Doppelmauer umgeben und die dreifache Tür dick mit Wolle polstern lassen müssen. Selbst der lauteste Schrei und hier hatte mancher um sein Leben gerufen! verhallte hinter solchen Barrieren. Nie aber wäre ein Fremder lebend in diesen wichtigsten Raum des Gebäudes vorgedrungen.
Der Sekretär Sulpicius Verus hockte auf einem Schemel und musterte den Mann, der vor ihm stand. Sollte er fluchen, tadeln, loben oder gar schmeicheln? Bei diesem Mann verfehlte alles seine Wirkung. Fünf Jahre lang kannte er Servianus nun aber was wußte er wirklich von ihm?
Fakten: Vor sechs Sommern der Organisation beigetreten, seitdem einer der Besten. Auf sein Konto ging die Entlarvung des Mordkomplotts um den Senator Quintus Vescillus weshalb der neue Kaiser ebenso wie sein Vater Vespasianus die Hand über ihn hielt.
ab urbe condita, seit Gründung Roms 753 v. u. Z.
Und das Äußere: Ein Blondschopf, nicht einmal mittelgroß, aber gut gebaut und körperlich höchst gewandt eine Selbstverständlichkeit für Agenten des Kaiserlichen Geheimbüros. In der Plebejertoga steckte ein Dolch, zu sehen war die Waffe nicht. Beides mußte so sein.
»Willst du dich setzen? Ich habe eine Menge zu sagen.«
»Ich stehe lieber, Herr Sekretär.«
Die Stimme klang derart farblos, daß Verus Mühe hatte, die Antwort zu verstehen. Dabei wußte er, daß sein Gegenüber klangvoll und akzentuiert sprechen konnte.
Offensichtlich will Servianus mal wieder nicht. Wann wollte er je! Wäre dieser Kerl nicht bei weitem der Fähigste der Meute, ich würde ihn... Der Sekretär lächelte, als wollte er sein Wohlgefallen bekunden. Niemand hätte es ihm verziehen, wenn er aus persönlichen Gründen den besten Mann kaltstellte – die Ausrede mochte lauten, wie sie wolle. Vor dem Kaiser war er selber entbehrlicher als der widerborstige Mann vor ihm.
»Was weißt du von den Söhnen des Feuers?«
»Oben in Etrurien flüstert man den Namen. Ich tippe auf einen Geheimbund.«
Ein volles Jahr hatten die Spione gebraucht, um ebensoviel herauszufinden, Verus biß sich auf die Lippen. »Wenig, Teuerster. Den Anzeichen zufolge handelt es sich um eine Etruskerverschwörung. Bereits Nero ließ sie jagen, damals hielt man sie für eine religiöse Splittergruppe, den Christen nahestehend – seinerzeit wohl zu Recht.
Letzthin steigerte sich ihre Aktivität, wechselte zu praktischen Zielen und strahlte aus. Ich meldete das. Seine Majestät wies mich an, sie zu beobachten und zur rechten Zeit zuzufassen. Ende Junius ging uns ein Kurier ins Netz. Der Text der bei ihm gefundenen Wachstafel klingt harmlos, doch da er sich bemühte, sie zu vernichten, steckt mehr dahinter.«
Etwas wie Interesse lebte in Servianus’ graugrünen Augen auf. »Was steht in dem Brief?«
»Da, die Übersetzung des oskisch geschriebenen Textes!« Der Sekretär schob ihm einen Pergamentstreifen zu.
»An Tolumnius meinen Gruß!
Die Geschäfte gehen gut. Ich sende Dir das Gewünschte, der Bote wird Dir Genaues sagen. Die Freunde bekamen Kinder. In P. brennt es. Zum Herbst muß das Wetter Umschlägen. Ich besuche Dich im Augustus, sage mir Deine Meinung.
Durch Apicius Gratha.
Ein eigentümlicher Inhalt. Man versteht den Sinn nur dunkel... Was sagte der Bote?«
»Tote schweigen.« Kaum verbarg Sulpicius Verus seinen Verdruß. Jener Apicius hatte sich den Dolch in die Brust gestoßen, als sechs Legionäre ihn überfielen. Nein, den konnte keine Folter mehr zum Sprechen bewegen.
Er fixierte seinen undurchsichtigen Untergebenen. »Es scheint, Gratha ist ein Anführer jener Leute. Überdies wird ein Mann gleichen Namens von der Verwaltung in Tarquinia gesucht, er erstach den Proprätor Servilius Casca. Wohl derselbe. Nun, deine Ansicht?«
»Naheliegendes siehst du selbst«, sagte Servianus gelassen. »Das riecht nach Verschwörung. Wer ist Tolumnius?«
»Wüßte ich das, wärest du noch in Ravenna; ich hatte mir den Eilkurier und die totgehetzten Pferde gespart!« knurrte der Sekretär. »Einen identifizierten Adressaten festzunehmen, dazu reicht mein Können noch aus, obgleich du mich neulich senil nanntest, du Unverschämter!«
In Servianus’ Gesicht zuckte kein Muskel, als er einen Namen aus der Liste vertrauenswürdiger Freunde strich und flüchtig erwog, ob Vergeltung zu wählen sei. Seine Äußerung war also weitergetragen worden. Konnte man im kaiserlichen Dienst etwas anderes erwarten?
»Der Kaiser wünscht rasch Bericht. Du weißt, er leidet an derselben Krankheit wie der verewigte Vater Vespasianus. Das macht die Majestät schwer berechenbar und läßt sie womöglich frühere Verdienste... vergessen.«
Stumm nickte der Blonde.
»Claudius Rufus schmuggelte mit viel Geschick Vertrauenspersonen in die Reihen der Söhne des Feuers. Doch noch sind unsere Augen und Ohren in den untersten Graden der Einweihung. Sie aufsteigen zu lassen, fehlt es an Zeit. Einiges deutet darauf hin, daß Aktionen bevorstehen; lies den Brief diesbezüglich. Das drängt zur Eile.
In unseren Verdächtigenlisten gibt es viele Tolumniusse. Rufus faßte deshalb den Faden anders an. Er rekonstruierte den Reiseweg des Kuriers Apicius. Der kam aus der Gegend nördlich von Falerii und wollte anscheinend nach Campanien. Der Brief ist oskisch geschrieben. Die Sprache wird doch kaum mehr benutzt außer eben im Süden von Campanien.«
Ohne den Vorgesetzten um Erlaubnis zu fragen, spazierte Servianus auf und ab, betrachtete uninteressiert die Pergamentrollen und blies den Staub hinunter. »Wenn Claudius Rufus am Fall arbeitet, mag er jenen Tolumnius suchen.«
Verus krampfte die Finger um die Tischplatte. Der Kerl zerrte an seinen Nerven! Jeder andere Mitarbeiter hätte widerspruchslos gehorcht. Nur dieser...! Reflektierte Servianus auf das Amt des Büroleiters, damit ihm nur noch der Kaiser und der designierte Thronfolger Domitianus befahlen? Nicht unmöglich. »Er sucht bereits seit drei Wochen in der Region südlich von Capua. Du operierst zwischen Neapolis, Nola und Pompeji. In den Südzipfel ist Nonius Helvius unterwegs. Das dazu.