Und ich muß gegebenenfalls ein Todesurteil sprechen? Wofür sollte ich sie denn verurteilen? Daß sie entstand? Daran ist sie unschuldig. Daß sie herumgestoßen und verabscheut wurde? Dafür kann sie gar nichts. Daß sie so gern ein richtiger Mensch sein möchte? Das ist doch sogar gut. Daß sie mich liebt? Wie kann ich das...? Nein, sie darf nicht sterben!
Sie ist kinderlieb auch wenn sie nie ein Kind bekommen dürfte, das vermag die Technik nicht! sie ist gut und liebenswert und klug. Und wenn sie in der Lage ist, ein Mensch zu sein oder jedenfalls so zu sein wie ein Mensch, dann darf man sie nicht verurteilen.
Ich darf es nicht, ich muß ihr helfen, endlich glücklich zu werden. Im Gegenteil, sie hat mir ja gewissermaßen die Verantwortung dafür übertragen, als sie sich mir anvertrauen wollte. Wenn ich sie enttäuschen würde ich glaube, dann wäre ich der schlechtere Mensch von uns beiden.
Also... ich werde es später verantworten müssen; aber ich werde es verantworten können.
Ich drückte auf die Klingel. Die Schritte des Arztes näherten sich. Die Tür klappte. Der Doktor kam herein und schaute mich fragend an.
»Nun?«
»Operieren Sie bitte!«
Das Triom
1
Mein Wagen wartete nur darauf, daß ich ihn auf die Spur lenkte. Auf dem Steuerpult leuchteten die orange Kontrollampe und daneben der eingetastete Ortsname RIEGITZ. Der Lenkrechner arbeitete, der Motor summte unruhig. Dann zog das Auto weich an.
Ich lehnte mich zurück, nahm die Brille ab und ließ Nerven und Muskeln erschlaffen. Das tat gut. Ohnehin behauptete Heinz, ich arbeitete zuviel; bedachtsames Vorgehen schaffe weniger Falten, ich sei bereits dreißig.
Ich freute mich, der Aufforderung zur Reise gefolgt zu sein. Voraussichtlich würde das Leitungsteam nachmittags zum drittenmal debattieren. Über Lappalien! Da zog ich einen Landausflug vor.
Ich verdankte ihn Doktor Fendi er. Wir kannten uns vom Schachclub her seine Bitte klang allerdings merkwürdig.
»Hör mal, Toni: Mein Patient besteht darauf, einen Biotechniker zu sprechen. Sofort. Die Zeit drängt, ihm geht es miserabel. Der Krankenwagen wartet längst.«
»Worum geht’s denn!« Mich ärgerte, daß er von einer Stelle anrief, die kein Videosystem besaß.
»Unbeschreibbar. Komm her! Ach ja, wirf vorher einen Blick ins Institutsarchiv. Malloy hat früher bei euch gearbeitet. Die Adresse ist: Riegitz, Haus dreizehn... Du, ich muß nachschauen, ob Malloy... Bis dann!«
Ich ahnte, worum es sich handelte: Der Kranke hatte an seinem Haus-Biomaten gebastelt, ein wohl unausrottbares Delikt.
Ein Laie mag das für geringfügig halten, der Biotechniker weiß es besser. Harmlose Manipulationen im Regelsystem lösen unberechenbare Folgen aus. Offenbar quälte den Patienten späte Reue.
Aber in gewisser Hinsicht ist ein Biotechniker auch ein Arzt; wenn man ihn ruft, muß er kommen.
Auf der Schnellstraße nach Norden nahm ich die Archivmappe zur Hand, einen dünnen Hefter noch aus der Epoche vor der Installation des Karteicomputers. Steinzeit! Malloy? Ich kannte niemand dieses Namens, lediglich ein komplizierter synthetischer Virus hieß so. Nach dem Erfinder? Möglich. Der Mann mußte Jahre vor meinem Eintritt das Institut verlassen haben.
Zuoberst lag der antike Personalbogen mit einem unscharfen, zweidimensionalen Farbfoto. Es zeigte einen schmalgesichtigen Mann mittleren Alters, dessen kurzgeschnittenes ergrauendes, Haar an vielen Stellen auszugehen begann. Der Ausdruck seiner Augen mißfiel mir, vermutlich eine Folge der unvollkommenen Fotografie.
James Chindwin Malloy, geboren... Ei! Wenn er wie jedermann mit fünfzig aufgehört hatte zu arbeiten, lag seine Pensionierung reichlich zwanzig Jahre zurück. Damals besuchte ich die Schule kein Wunder, daß ich ihn nicht kannte. Seine Jugend hatte er in Australien verlebt, blieb nach dem Studium anfangs als Assistent am Institut...
Zweimal las ich die knappe handschriftliche Bemerkung am unteren Blattrand. »Wegen Verstoßes gegen § 415 der IGRPDirektiven[6] vorzeitig pensioniert.«
»Vierhundertfünfzehn?« murmelte ich. »Die magische Zahl der Absatz über menschliches Erbmaterial. Lieber Himmel, der Kerl hat doch nicht etwa...«
Der Lenkrechner summte auf, der Wagen minderte sein Tempo. Verdutzt wartete ich auf eine Erklärung. Die Schriftleiste leuchtete auf: NACH RECHTS! HANDBETRIEB!
Eine Kreuzung näherte sich, das Auto scherte selbständig auf die Standspur aus. Also besaß die Nebenstraße keine Leiteinrichtung.
Verdrossen setzte ich die Brille wieder auf. Sobald ich das Lenkrad erfaßte und die Füße auf Bremse und Beschleuniger stellte, verloschen Lichtband und Kontrolleuchte. Die Reise verlief jetzt wieder wie zu Großvaters Zeiten nach Augenmaß und Reaktionsschnelligkeit des Fahrers. Natürlich war an ein Weiterlesen nicht zu denken.
Rings um Riegitz erstreckten sich ausgedehnte Buschwälder. Ich kannte die Region kaum und erfreute mich am wechselnden Ausblick auf Hügel und Teiche und die dunklen Wälder am Horizont. Hier ausspannen und die Arbeit für Wochen vergessen...
Niemand begegnete mir. Allem Anschein nach war die Gegend nur dünn besiedelt. Wohl deshalb hatte man die Straße noch nicht dem neuen Status angepaßt. Ich fühlte mich wie in einem großen Reservat.
Endlich senkte sich die Asphaltstraße in eine weite bewaldete Talmulde, aus der wenige Dächer hervorragten. Riegitz? Blieb noch das Problem, die Nummer 13 zu finden. Wo man die Häuser abzählte, war das wohl einfach.
Rechtzeitig trat ich auf die Bremse. Die Büsche hatten den winkenden Mann am Straßenrand verdeckt. Quietschend kam mein Auto zum Stehen.
»Was machst du denn hier, Harald?«
»Grüß dich, Toni«, erwiderte er hastig und setzte sich neben mich. »Ich mußte dich abpassen. Haus dreizehn steht nämlich außerhalb des Orts, und wir dürfen keine Zeit verlieren. Rechts rein!«
Während ich den sandig-steinigen Weg aufwärts steuerte und über Baumwurzeln schimpfte, die das Auto schlingern ließen, berichtete Fendler in seiner knappen Art: »Bin heute Diensthabender Arzt. Kurz vor Mittag ein Notruf an die Zentrale. Aber niemand meldete sich. Wir hielten es für einen schlechten Witz und legten auf. Es wiederholte sich, da glaubten wir an einen Leitungsdefekt. Immerhin schlug einer beim dritten Mal vor, von der Post den Anrufer ermitteln zu lassen. Man rief zurück. Dort wurde abgehoben, es blieb aber still. Darum führ ich auf Verdacht her.«
»Was hat Malloy?«
»Progressive Himlähmung, eine Art Schlaganfall. Details sagen dir nichts. Zwei Züge vor dem Matt. Der Körper weitgehend gelähmt, aber der Bursche redet wie ein Wasserfall. Ich glaube, er will seine Angst nicht zeigen. Er müßte sofort in die Klinik, ich rechne mit einem zweiten, letalen Schlag. Das Regelgerät kann ihn nur hinauszögem.«
Der Strauchwald lichtete sich. Der Weg führte an einem rostigen, von Ranken überwucherten Gitter entlang, hinter dem ein riesiges Unkrautfeld begann. Nach einer Kurve erwies sich der Zaun als Grundstücksumfriedung, das Unkrautfeld als verwilderter Garten mit einer zerbröckelnden Villa aus dem vergangenen Jahrhundert.
»Lieblich«, sagte ich kopfschüttelnd und stoppte den Wagen vor dem Hoftor. Unter den Bäumen stand ein weißes Krankenauto, zwei junge Assistenten hockten im Schatten einer Tanne und spielten Karten. Sie deuteten einen Gruß an.
Ich zog das Kostüm zurecht und stieg aus. Harald öffnete die Haustür.
»Wo steckt der manipulierte Biomat?«
»Biomat? Schön wär’s«, meinte er. »Bin gespannt, wie Malloy die Sache darstellt. Mir wurde dabei... Hier hinein, Toni!«