Doch aus welchem Grund setzte sich Rabirius derart für einen scheusaligen Sklaven ein? Für Lydia und Astris das hätte Corellius begriffen.
»Wenn das wahr ist...«, sagte er unwillkürlich, faßte sich aber gleich. »Du entschuldigst mich, Herr Provinzialsekretär«, versetzte er kalt und begab sich zum Wachkommando.
Faustus meinte zu frieren. Seit Montag lief alles schief. Binnen weniger Tage hatte der Sklave Salmo sämtliche Listen durchgesehen und die falschen Buchungen entdeckt. Wie flink er rechnete! Addieren war ihm ein Spiel, Multiplizieren keine Arbeit.[2] Schon deshalb mußte er sterben. Falls sich der Kerl zuerst an Rabirius gewandt hätte, statt dumm ihn zu befragen... Nicht auszudenken!
Sein Dreh mit der angeblichen Flucht war zwar gelungen. Doch jetzt? Bluffte Rabirius? Oder kalkulierte er, den Tribun durch Zugeständnisse auf seine Seite zu ziehen? Nicht ausgeschlossen. Sein Ende wäre gewiß. Was also tun?
Es gab nur eine Antwort. Schnellstmöglich ins Baskengebiet fliehen, wo die Macht des Kaisers Tiberius nicht weiter reichte als die Speere einer Legionärspatrouille.
Es fehlte wenig bis zur Dämmerung. Nach der Befehlsausgabe und der Einteilung der Wachen wurden die meisten Soldaten für Abend und Nacht beurlaubt. Quintus Corellius als Kommandeur mußte verfügbar sein. Der Legionär Marcus fungierte als Adjutant, was eher Strafe als Belohnung war. Corellius verübelte es ihm nämlich, voreilig seinen Speer geworfen und damit Salmos Flucht gewissermaßen aktenkundig gemacht zu haben. Sonst wäre alles zu arrangieren gewesen. Aber gewaltsame Flucht...
Zum verabredeten Besuch beim Architekten nahm er Marcus mit. Möglich, daß er etwas zu tun bekäme.
Quintus Corellius schwieg. Selten nur hatten ihn Zweifel gequält. Mit der Entscheidung für die Laufbahn eines Legionärs folgte er dem Vorbild des Vaters und dessen Vaters. Ein guter Soldat zu sein, forderte das Reglement; und Beförderungen verhießen höheren Sold. Bald war er Offizier geworden. Daß seine Abteilung nach der Varus-Katastrophe an den Rhein kommandiert wurde, hatte man in Rom verfügt. Die furchtbaren Nebelnächte Germaniens hatten freilich einmal in ihm den Gedanken an Desertion geweckt. Daran erinnerte er sich ungern, hatte sich auch nicht dazu aufgerafft; aus Römerbewußtsein oder aus Feigheit? Dann hatte man ihn nach Hispanien und speziell nach Äliacum geschickt.
Nun aber drohte eine Entscheidung. Der verehrte Servius Rabirius plante etwas Unrechtes. In der Dienstvorschrift stand, daß er ungesetzliche Pläne zu vereiteln oder zumindest anzuzeigen habe. Den Tribun benachrichtigen? Zum Glück war der noch auf Inspektionstour. Zu den Duumvirn gehen? Kein Soldat erkannte einen Zivilisten als höherstehend an.
Er würde so viele Augen zudrücken wie möglich, beschloß er. Und hoffentlich besann sich Rabirius eines Besseren.
Den Stein des Anstoßes neben sich zu haben, erschien ihm indes unklug; darum hieß er Marcus vor dem Haus warten.
Corellius trat zögernd ins Atrium und fand Rabirius über einen Papyrusbogen voller hundertfach verschlungener Kurven gebeugt. Horoskope? Etwas vom Bau?
»Tritt ein, Centurio, nimm Platz!« sagte der Architekt, ohne aufzublicken. »Ich bin gleich fertig. Lydia! Bring dem Herrn Hauptmann eine Erfrischung!«
Die Sklavin hatte im Hintergrund gehockt, sie eilte hinaus.
Corellius setzte sich auf die Bank, auf der er vor sechs Tagen gesessen hatte, und schaute mit verständnisloser Bewunderung auf die Zeichnungen. In den Sternen lesen? Rabirius konnte eben alles.
»Exakt. Ich dachte es mir so.« Der Hausherr schob die Unterlagen beiseite und blickte eine Weile ins Leere. »Warum ich dich herbat? Ich habe in den Notizen nachgeschaut. Mein Elixier taugt auch für deinen Husten.« Er zog ein rotbraunes Glasfläschchen hervor. »Hier ist das Mittel. Jeden Morgen mußt du bei Sonnenaufgang exakt fünf Tropfen in Wein oder Wasser mischen und trinken. Auf keinen Fall mehr nehmen! Es wirkt nicht schneller, du würdest dir statt dessen schwer schaden. Binnen einer Woche wird der Husten abklingen; und wenn du das Fläschchen geleert hast, ist auch die Wurzel der Krankheit ausgezogen.«
»Herr... Danke, Herr!« Corellius suchte nach Worten. Diese Hoffnung hatte er schon aufgegeben. Und gerade heute morgen war das Reißen in der Lunge schlimm gewesen! »Was forderst du... ?« Er fröstelte j äh.
»Unter anderen Umständen hätte ich es dir geschenkt«, begann Rabirius. »Leider hat sich etwas ereignet, was meine Pläne durchkreuzt. Die Sache mit Salmo.«
Die schon nach der Flasche ausgestreckte Hand zuckte zurück.
Lydia stellte dem Offizier eine Schale mit verschiedenen Leckereien hin. »Bitte, Herr! Den Wein bringe ich gleich.«
Rabirius wartete, bis sie außer Hörweite war. »Ich nehme es nicht schweigend hin, wenn man meine Schützlinge heimtükkisch umbringen will. Du wirst vermutlich sagen: ein Sklave. Ich bin anders erzogen und kann es nicht so sehen. Mensch ist Mensch, und ich versprach ihm Schutz. Mein Wort muß immer gelten, sonst ist es Geschwätz.«
Die leidige griechische Erziehung! »Bei den Göttern! Willst du ihn etwa... befreien?«
Rabirius blickte an ihm vorbei. »Ich kenne die Gesetze. Schau mich nicht so zweifelnd an! Von dir erwarte ich nichts Unrechtes. Zum ersten wünsche ich ein halbstündiges Gespräch mit Salmo, unbelauscht«
»Kein Problem.«
»Zum zweiten: Schließt ihn nachts im Innenhof des Wachhauses ein. Fliehen kann er von dort nicht. Zur Sicherheit stellt zwei oder drei Legionäre vor die Tür.«
»Das läßt sich machen«, bestätigte der Offizier. Argwöhnisch sah er sein Gegenüber an. »Herr, es geht mich wenig an, und vielleicht wäre mir am wohlsten, gar nichts zu wissen aber du hast etwas Ungesetzliches vor. Das sieht ein Blinder. Ich will dir gern helfen, nicht bloß wegen des Elixiers. Die Sache mit dem Sklaven schmeckt wie saurer Wein Faustus ist kein
vertrauenswürdiger Zeuge. Aber Salmo wollte wirklich weglaufen, also...«
»Ebendas soll er mir unter Eid bestätigen oder es ableugnen.«
»Damit du hinterher seine Sache vor dem Tribun vertrittst?«
»Wie wir zueinander stehen, hätte das wenig Zweck. Es gibt aber höhere Instanzen als Septimus Crusius.«
»Die Provinzverwaltung? Denn sonst begreife ich nicht, worauf du ab ziel st, Herr.«
»Es wird besser sein, wenn dir meine Pläne unbekannt sind«, sagte Rabirius. In seinen Zügen lag etwas, das einen Entschluß vermuten ließ. »Du sollst gegebenenfalls guten Gewissens schwören können, nichts zu wissen. Gerade darum ersuche ich dich, eine ordentliche Wache vor der Hoftür zu postieren. Jeder Anschein einer Absprache muß vermieden werden.«
»Ich könnte selbst...«
»Um dich hineinzureißen? Das würde den Verdacht nur anfachen!« unterbrach Rabirius. »Nimm Leute, denen Crusius vertraut keine Verehrer von mir.«
Da werden sich wenige finden, dachte der Centurio. »Ich verstehe dich nicht, Herr.«
»Das ist auch nicht möglich. Leider bin ich außerstande, dir mehr zu erklären. Betrachte das Geschehen als ein Gottesurteil. Vielleicht, so viel, daß du einsiehst, warum ich es anrufe: Salmo und ich sind wie zwei Seiten einer Münze, verschieden, aber zusammengehörig.«
Corellius war um nichts klüger geworden. »Du meinst, er ist so ähnlich wie du, und nur einer kann Architekt sein?«
»Nicht falsch. Warst du schon mal im Schiff auf hoher See?«
»Unter Germanicus in der Nordsee.« Der Centurio erinnerte sich ungern.
»Stell dir vor, er und ich, wir sind wie zwei Segler, die sich im Nebel begegnen. Ihre Kapitäne dürfen einander nicht zu
nahe kommen, ungeachtet daß sie Freunde sind, sonst geschähe Unheil.«