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Langsam trat Hugo weiter zurück, während sie um die Säule herum aufs Frühstückszimmer zuging; er hatte Angst vor ihr, hatte zu oft gesehen, wie ihre sanften Augen hart wurden, wenn sie mit ihm allein war, ihn auf der Treppe erwischte, sich von ihm Milch ins Zimmer bringen ließ, wo er sie mit der Zigarette im Mund antraf, sie ihm das Milchglas aus der Hand riss, es lachend in den Abfluss entleerte, sich einen Cognac einschenkte, mit dem Glas in der Hand auf ihn, der langsam zur Tür zurückwich, zukam. ‚Hat dir noch niemand gesagt, dass dein Gesicht Gold wert ist, pures Gold, du dummer Junge. Warum willst du nicht das Gotteslamm meiner neuen Religion sein? Ich werde dich groß machen, reich, und sie werden in noch schickeren Hotelhallen vor dir knien! Bist du noch nicht lange genug hier, um zu wissen, dass ihre Langeweile nur mit einer neuen Religion auszufüllen ist, eine, die je dümmer, desto besser ist – geh nur, du bist zu dumm.‘ Er blickte ihr nach, während sie mit unbewegtem Gesicht sich vom Kellner die Tür zum Frühstückszimmer aufhalten ließ; sein Herz klopfte noch, als er hinter der Säule hervorkam und langsam ins Restaurant hinunterging.

„Einen Cognac für den Doktor oben, einen großen.“

„Stunk in der Bude wegen deinem Doktor.“

„Wieso Stunk?“

„Ich weiß nicht. Ich glaube, der wird dringend gesucht, dein Doktor. Da, dein Cognac, und verdrück dich schnell, mindestens siebzehn alte und junge Weiber fahnden nach dir; rasch, da kommt wieder eine die Treppe herunter.“

Sie sah aus, als hätte sie zum Frühstück pure Galle getrunken, in goldfarbene Kleider gekleidet, mit goldfarbenen Schuhen, Mütze und Muff aus Löwenfell. Ekel breitete sich aus, sobald sie erschien, und es gab Abergläubische unter den Gästen, die ihr Gesicht bedeckten, wenn sie auftrat. Zimmermädchen kündigten ihretwegen, Kellner verweigerten die Bedienung, aber er, er musste, sobald sie ihn erwischte, stundenlang mit ihr Canasta[25] spielen; ihre Finger wie Hühnerkrallen, einzig menschlich an ihr war die Zigarette in ihrem Mund. ‚Liebe, mein Junge, nie gewusst, was das ist; nicht einer, der mich nicht merken lässt, dass er sich vor mir ekelt; meine Mutter verfluchte mich siebenmal am Tage, schrie mir ihren Ekel ins Gesicht; hübsch war meine Mutter und jung, jung und hübsch war mein Vater, waren meine Geschwister; sie hätten mich vergiftet, wenn sie den Mut nur aufgebracht häten; sie nannten mich: so was dürfte nicht geboren werden – hoch oben wohnten wir in der gelben Villa über dem Stahlwerk, abends verließen tausende Arbeiter das Werk, wurden von lachenden Mädchen und Frauen erwartet, lachend gingen sie die dreckige Straße hinunter; ich kann sehen, hören, fühlen, riechen wie alle anderen Menschen, kann schreiben, lesen, rechnen und schmecken – du bist der erste Mensch, der es länger als eine halbe Stunde bei mir aushält, hörst du, der erste!‘

Sie schleppte Entsetzen hinter sich her, Atem des Unheils, warf ihren Zimmerschlüssel auf die Theke, schrie dem Boy, der dort Jochen vertrat, ins Gesicht: ‚Hugo, wo ist er, Hugo?‘, ging, als der Boy die Schultern zuckte, zur Drehtür, und der Kellner, der die Tür in Gang setzte, schlug die Augen nieder, und sobald sie draußen war, zog sie den Schleier vors Gesicht.

‚Drinnen trag ich ihn nicht, Junge, die sollen etwas sehen für ihr Geld, sollen mir ins Gesicht schauen für mein Geld, aber die da draußen, die haben es nicht verdient.‘

„Hier, der Cognac, Herr Doktor.“

„Danke, Hugo.“

Er mochte Fähmeclass="underline" der kam jeden Morgen um halb zehn, erlöste ihn bis elf, hatte ihm schon ein Gefühl der Ewigkeit verliehen; war es nicht immer so gewesen, hatte er nicht vor Jahrhunderten schon hier an der weißlackierten Türfüllung gestanden, die Hände auf dem Rücken gekreuzt, dem leisen Spiel zugesehen, den Worten gelauscht, die ihn sechzig Jahre zurück, zwanzig vor, wieder zehn zurück und plötzlich in die Wirklichkeit des Kalenderblatts draußen warfen? Weiß über grün, rot über grün, rot – weiß über grün, immer innerhalb des Randes, der nur zwei Quadratmeter grünen Filzes umschloss; das war sauber, trocken und genau; zwischen halb zehn und elf; zweimal, dreimal hinunter, um den großen Cognac zu holen; Zeit war hier keine Größe, an der irgend etwas ablesbar wurde; auf diesem rechteckigen grünen Löschpapier wurde sie ausgelöscht; vergebens schlugen die Uhren an, Zeiger bewegten sich vergebens, rannten in sinnloser Eile vor sich selbst davon; alles stehen- und liegenlassen, wenn Fähmel kam, gerade um die Zeit, wo am meisten zu tun gewesen wäre: alte Gäste gehen, neue kommen; er musste hier stehen, bis es elf von Sankt Severin schlug, doch wann, wann schlug es elf? Luftleere Räume, zeitleere Uhren, er war hier untergetaucht, fuhr unter Ozeanen her, Wirkliches drang nicht ein, druckte sich draußen platt wie an Aquarien- und Schaufensterscheiben, verlor seine Dimensionen, hatte nur noch eine, war flach, wie ausgeschnitten aus Ausschneidebögen für Kinder, sie hatten alle ihre Kleider nur provisorisch umgehängt wie diese ausgeschnittenen Pappepuppen, strampelten hilflos gegen die Wände, die dicker waren als Jahrhunderte aus Glas; fern der Schatten von Sankt Severin, ferner noch der Bahnhof, und die Züge nicht wahr: D und F und E, und FD und TEE und FT[26], trugen Koffer zu Zollstationen; wahr waren nur die drei Billardkugeln, die übers grüne Löschpapier rollten, immer neue Figuren bildeten: Unendlichkeit, in tausend Formeln auf zwei Quadratmetern enthalten, er schlug sie mit seinem Stock heraus, während seine Stimme sich in den Zeiten verlor.

„Geht die Geschichte weiter, Herr Doktor?“

„Willst du sie hören?“

„Ja.“

Fähmel lachte, nippte an seinem Cognacglas, zündete sich eine neue Zigarette an, nahm den Stock in die Hand und stieß die rote Kugel an: rot und weiß rollten über grün.

„Eine Woche danach, Hugo…“

„Nach was?“

Fähmel lachte wieder. „Nach diesem Schlagballspiel, nach diesem 14. Juli 1935, den sie in den Putz über dem Blechspind eingeritzt hatten – eine Woche danach war ich froh, dass Schrella mich an den Weg, der zu Trischlers Haus führte, erinnert hatte. Ich stand auf der Balustrade des alten Wiegehauses, am unteren Hafen; von dort aus konnte ich den Weg gut überschauen, der an Holzschuppen und Kohlenlagern vorbeilief, sich zu einer Baustoffhandlung hin senkte, von dort auf den Hafen zulief, der durch ein rostiges Eisengeländer abgesperrt war und nur noch als Schiffsfriedhof diente. Sieben Jahre vorher war ich zuletzt hier gewesen, aber es hätten auch fünfzig Jahre sein können; als ich zusammen mit Schrella Trischlers noch besuchte, war ich dreizehn gewesen; lange Schleppzüge ankerten abends an der Böschung, Schifferfrauen mit Einkaufkörben stiegen über die schwankenden Stege an Land; frische Gesichter hatten die Frauen und Zuversicht in den Augen; Männer, die nach Bier und nach Zeitungen verlangten, kamen hinter den Frauen her; Trischlers Mutter musterte aufgeregt ihre Waren: Kohl und Tomaten, silbrige Zwiebeln, die gebündelt an der Wand hingen, und draußen spornte der Schäfer mit kurzen, scharf klingenden Kommandos seine Hunde an, die Schafe in die Hürde zu treiben; drüben – auf diesem Ufer hier, Hugo – leuchteten die Gaslaternen auf, gelbliches Licht füllte die weißen Ballons, deren Reihe sich nach Norden zu ins Unendliche fortpflanzte; Trischlers Vater knipste in seiner Gartenwirtschaft die Lampen an, und Schrellas Vater, mit dem Handtuch über dem Unterarm, kam nach hinten ins Treidlerhaus, wo wir Jungen, Trischler, Schrella und ich, Eis zerkleinerten und über die Bierkästen warfen.

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25

Canasta (von span. canasta: Korb) – ein Kartenspiel für vier Personen in zwei Partnerschaften; es existieren auch Varianten für zwei, drei, fünf oder sechs Personen.

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26

Ein Schnellzug (in Deutschland und Österreich auch D-Zug) ist eine Zuggattung der Eisenbahn und bezeichnet Züge, die nicht auf allen Unterwegsbahnhöfen halten

Zum Sommerfahrplan 1951 führte die DB eine neue Zuggattung, den Fernzug ein. Diese Züge verbanden in individuellen Fahrplänen die neuen Wirtschaftszentren der Bundesrepublik untereinander. Sie führten die Zuggattungsbezeichnung „F“ für Fernzug und führten bis 1956 nur die damalige erste und zweite Wagenklasse, danach ausschließlich die erste Klasse. Die Fernzüge wurden ab 1971 durch den InterCity-Zug abgelöst.

In der Zuggattung Eilzug (E) waren über mittelgroße Entfernungen (meistens zwischen zwei Ballungsräumen) verkehrende Züge zusammen gefasst, die nur in wichtigeren Bahnhöfen hielten. In einigen Verkehrsverbünden gibt es Stadtbahnen, auf denen einige Kurse mit wenigen Halten als Eilzug fahren. Nachfolger des Eilzuges ist heute der RegionalExpress.

Der FernExpress war eine Zuggattung mit erster und zweiter Klasse mit dem traditionsreichem Kürzel FD, die zum Sommerfahrplan 1983 von der DB eingeführt wurde. Diese mit eigenen Namen versehenen Züge verbanden in der Regel den Großraum Hamburg oder das Ruhrgebiet mit Ferienzentren in Süddeutschland, teilweise führten diese Züge auch ins Ausland.

Trans Europ Express (TEE) waren elegante, komfortable Schnellzüge, die zwischen den Staaten der ehemaligen EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft) sowie der Schweiz verkehrten. Sie führten ausschließlich Wagen der ersten Klasse.