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Jetzt, sieben Jahre später, Hugo, an diesem 21. Juli 1935 war die Farbe von allen Zäunen abgeblättert, und ich sah, dass an Michaelis Kohlenlager nur das Tor erneuert war; hinter dem Zaun verrottete ein großer Haufen Briketts, ich suchte immer wieder alle Windungen der Straße ab, um mich zu vergewissern, dass niemand mir gefolgt war; ich war müde, spürte die Wunden auf meinem Rücken, Schmerz flammte wie Pulsschlag auf; zehn Minuten lang war die Straße leer geblieben; ich blickte auf den schmalen Streifen bewegten sauberen Wassers, der den unteren mit dem oberen Hafen verband: kein Boot war zu sehen, blickte in den Himmeclass="underline" kein Flugzeug, und ich dachte: du scheinst dich sehr ernst zu nehmen, wenn du glaubst, sie schicken Flugzeuge aus, dich zu suchen.

Ich hatte es getan, Hugo, war mit Schrella in das kleine Cafe Zons an der Boissereestraße gegangen, wo die Lämmer sich trafen, hatte dem Wirt das Losungswort zugemurmelt: Weide meine Lämmer, und ich hatte geschworen, einem jungen Mädchen, das Edith hieß, ins Gesicht hinein geschworen, niemals vom Sakrament des Büffels zu kosten, hatte dann in dem dunklen Hinterzimmer eine Rede gehalten, mit dunklen Worten drin, die nicht nach Lamm klangen; sie schmeckten nach Blut, nach Aufruhr und Rache, Rache für Ferdi Progulske, den sie am Morgen hingerichtet hatten; wie Geköpfte sahen die aus, die um den Tisch herumsaßen und mir zuhörten; sie hatten Angst und wussten jetzt, dass kindlicher Ernst nicht weniger ernst ist als der der Erwachsenen; Angst und die Gewissheit, dass Ferdi wirklich tot war: siebzehn Jahre war er alt gewesen, Hundertmeterläufer, Tischlerlehrling, nur viermal hatte ich ihn gesehen und würde ihn nie wieder in meinem Leben vergessen; zweimal im Cafe Zons und zweimal bei uns zu Hause; Ferdi war in Ben Wackes Wohnung geschlichen, hatte ihm, als er aus dem Schlafzimmer kam, die Bombe vor die Füße geworfen; nur Brandwunden hatte Ben Wackes an den Füßen, ein Garderobenspiegel zersplitterte, es roch nach verbranntem Schwarzpulver, Torheit, Hugo, kindlichem Edelmut entsprungen, hörst du, hörst du wirklich?…“

„Ich höre.“

„Ich hatte Hölderlin gelesen: Mitleidend bleibt das ewige Herz doch fest, und Ferdi nur Karl May[27], der den gleichen Edelmut zu predigen schien; Torheit, unterm Handbeil gebüsst, im Morgengrauen, während die Kirchenglocken zur Frühmesse läuteten, Bäckerjungen warme Brötchen in Leinenbeutel zählten, während hier im Hotel Prinz Heinrich den ersten Gästen das Frühstück serviert wurde, während Vögel zwitscherten, Milchmädchen auf Gummisohlen sich in stille Hauseingänge schlichen, um Milchflaschen auf saubere Kokosmatten zu stellen; motorisierte Boten rasten durch die Stadt, von Plakatsäule zu Plakatsäule, klebten rotumrandete Zettel an: ‚Hinrichtung! Der Lehrling Ferdinand Progulske‘ – gelesen von Frühaufstehern und Straßenbahnern, von Schülern und Lehrern, von all denen, die morgens mit ihren Broten in der Tasche zur Straßenbahn eilten, die Lokalzeitung noch nicht aufgeschlagen hatten, die es in Gestalt einer Schlagzeile verkündete: ‚Exempel statuiert‘, und von mir gelesen, von mir, Hugo, als ich gerade hier vorne an der Ecke in die 7 einsteigen wollte.

Ferdis Stimme am Telefon, war das gestern oder vorgestern gewesen: ‚Du kommst doch, wie verabredet, ins Cafe Zons?‘ Pause. ‚Kommst du oder kommst du nicht?‘ ‚Ich komme.‘

Enders versuchte noch, mich am Ärmel in die Bahn zu zerren, aber ich riss mich los, wartete, bis die Bahn um die Ecke herum verschwunden war, lief zur gegenüberliegenden Haltestelle, wo auch heute noch die 16 abfährt; fuhr durch friedliche Vorstädte zum Rhein, vom Rhein wieder weg, bis die Bahn endlich zwischen Kiesgruben und Baracken in die Schleife der Endstation einbog. Winter müsste sein, dachte ich damals, Winter, kalt, regnerisch, bedeckter Himmel, dann wäre es erträglicher, aber hier, wo ich stundenlang zwischen Kleingärten umherirrte, Aprikosen und Erbsen sah, Tomaten und Kohl, wo ich das Klirren von Bierflaschen hörte, die Klingel des Eismannes, der an einer Wegkreuzung stand und Vanilleeis in bröcklige Waffeln spachtelte; das konnten sie doch nicht tun, dachte ich, konnten nicht Eis essen, Bier trinken, Aprikosen betasten, während Ferdi…

Gegen Mittag verfütterte ich meine Brote an grämliche Hühner, die auf dem Lagerhof eines Altwarenhändlers ungenaue geometrische Figuren in den Dreck furchten; aus einem Fenster heraus sagte eine Frauenstimme: ‚Diesen Jungen, hast du gelesen, sie haben ihn…‘, und eine Männerstimme antwortete: ‚Verflucht, sei still, ich weiß doch…‘ Ich warf die Brote den Hühnern hin, lief weiter, verlor mich zwischen Bahndämmen und Grundwasserlöchern, erreichte irgendwo wieder eine Endstation, fuhr durch Vorstädte, die mir unbekannt waren, stieg aus, kehrte meine Hosentaschen nach außen: Schwarzpulver rieselte auf einen grauen Weg; ich rannte weiter, wieder Bahndämme, Lagerplätze, Fabriken, Kleingärten, Häuser, ein Kino, an dessen Schalter eben die Kassiererin das Fenster hochschob. Drei Uhr? Genau drei. Fünfzig Pfennige. Ich war der einzige Besucher der Vorstellung; Hitze brütete auf dem Blechdach; Liebe, Blut, ein betrogener Liebhaber zückte das Messer; ich schlief ein, erwachte erst wieder, als lärmende Besucher zur Sechs-Uhr-Vorstellung in den Saal kamen, taumelte nach draußen. Wo war meine Schulmappe? War sie im Kino? Draußen an der Kiesgrube, wo ich lange gesessen und die triefenden Lastautos beobachtet hatte, oder war sie dort, wo ich den grämlichen Hühnern meine Brote hingeworfen hatte? Ferdis Stimme am Telefon, war das gestern oder vorgestern gewesen: ‚Du kommst doch, wie verabredet, ins Cafe Zons?‘ Pause. ‚Kommst du oder kommst du nicht?‘ ‚Ich komme.‘

Rendezvous mit einem Geköpften. Torheit, die mir jetzt schon kostbar wurde, weil der Preis dafür so hoch gewesen war; Nettlinger erwartete mich vor dem Cafe Zons; sie brachten mich in die Wilhelmskuhle, schlugen mich mit der Stacheldrahtpeitsche; winzige Pflüge furchten meinen Rücken auf; durch die rostigen Fenstergitter hindurch konnte ich die Böschung sehen, auf der ich als Kind gespielt hatte; immer wieder war uns der Ball heruntergerollt, immer wieder war ich die Böschung runtergeklettert, hatte den Ball aufgehoben, einen ängstlichen Blick auf das rostige Gitter geworfen und hinter den schmutzigen Scheiben Böses zu spüren geglaubt; Nettlinger schlug zu.

In der Zelle versuchte ich, mir das Hemd auszuziehen, aber Hemd und Haut waren in gleichem Maße zerfetzt, ineinander verhakt, wenn ich am Kragen, am Ärmel zog, war es, als zöge ich mir die Haut über den Kopf.

Schlimm waren Augenblicke wie dieser; als ich an der Balustrade des Wiegehauses stand, müde, war mein Stolz auf die Stigmata geringer als der Schmerz; mein Kopf fiel aufs Geländer, mein Mund lag auf dem rostigen Gestänge, und die Bitterkeit des verwitterten Eisens drang mir wohltuend in den Mund; noch eine Minute nur bis Trischlers Haus, und ich würde wissen, ob sie mich dort schon erwarteten; ich erschrak: ein Arbeiter, mit seinem Henkelmann unter dem Arm, kam die Straße herauf, verschwand im Tor zur Baustoffhandlung. Als ich die Treppe hinunterging, umfasste ich das Geländer so fest, dass ich den Rost in Flocken vor meiner Hand herschob.

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Karl Friedrich May, eigentlich Carl Friedrich May (* 25. Februar 1842 in Ernstthal; † 30. März 1912 in Radebeul) war ein deutscher Schriftsteller. Karl May war einer der produktivsten Abenteuerschriftsteller und zählte jahrzehntelang zu den meistgelesenen Schriftstellern Deutschlands. Bekannt wurde er vor allem durch seine so genannten Reiseerzählungen, die vorwiegend im Orient und in den Vereinigten Staaten und Mexiko angesiedelt sind. Viele seiner Werke wurden verfilmt, für die Bühne adaptiert, zu Hörspielen verarbeitet oder als Comics umgesetzt.