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Unheil oder Laster; sie lagen in der Luft, aber Jochen war immer zu harmlos gewesen, hatte nie Selbstmord gewittert und es nie geglaubt, wenn verstörte Gäste die Stille des Todes hinter verschlossenen Zimmertüren von der Stille des Schlafs zu unterscheiden gewusst hatten; der tat korrupt und gerieben und glaubte doch an die Menschen.

„Na, meinetwegen“, sagte der Portier, „ich geh zum Frühstück. Dass du nur niemand zu ihm rauflässt, da legt er Wert drauf. Hier.“ Er legte Jochen die rote Karte auf die Theke: ‚Zu sprechen nur für meine Mutter, meinen Vater, meine Tochter, meinen Sohn und Herrn Schrella – für niemanden sonst.‘

Schrella? dachte Jochen erschrocken, lebt der denn noch? Den haben sie doch damals umgebracht – oder hatte er einen Sohn?

Dieses Aroma schlug alles tot, was in der Halle in den letzten vierzehn Tagen geraucht worden war, dieses Aroma trug man vor sich her wie eine Standarte: hier komm ich, der Bedeutende, der Sieger, dem keiner widersteht; einsneunundachtzig, grauhaarig, Mitte vierzig, Anzugstoff: Regierungsqualität; so waren Kaufleute, Industrielle, Künstler nicht gekleidet, das war beamtete Eleganz, Jochen roch es; das war Minister, Gesandter, unterschriftsträchtig mit fast gesetzlicher Kraft; das drang ungehindert durch gepolsterte, stählerne, blecherne Vorzimmertüren, räumte mit seinen Schneepflugschultern alle Hindernisse weg, strahlte liebenswürdige Höflichkeit aus, der man doch anmerkte, dass sie angelernt war, ließ der Oma den Vortritt, die eben ihren ekligen Köter wieder aus Erichs, des zweiten Boys, Hand entgegennahm, half sogar dem grabentstiegenen Skelett, das Treppengeländer erreichen und umfassen. „Gern geschehen, gnädige Frau.“

„Nettlinger.“

„Womit kann ich dienen, Herr Doktor?“ – „Ich muss Herrn Dr. Fähmel sprechen. Dringend. Sofort. Dienstlich.“

Kopfschütteln, sanfte Verneinung, während er mit der roten Karte spielte. Mutter, Vater, Sohn, Tochter, Schrella. Nettlinger nicht erwünscht.

„Aber ich weiß, dass er hier ist.“

Nettlinger? Hab ich den Namen nicht schon mal gehört? Das ist so ein Gesicht, bei dem mir was einfallen müsste, was ich nicht vergessen wollte. Ich habe den Namen schon gehört, vor vielen Jahren, und mir damals gesagt: den musst du dir merken, vergiss ihn nicht, aber nun weiß ich nicht mehr, was ich mir merken wollte. Auf jeden Falclass="underline" Vorsicht. Dir würde speiübel, wenn du wusstest, was der alles schon gemacht hat, du würdest bis an dein seliges Ende nicht aufhören können zu kotzen, wenn du den Film ansehen müsstest, den der am Tag des Gerichts vorgespielt bekommt: den Film seines Lebens; das ist so einer, der Leichen die Goldzähne ausbrechen, Kindern das Haar abschneiden lässt. Unheil oder Laster? Nein, Mord lag in der Luft.

Und diese Leute wussten nie, wann ein Trinkgeld angebracht war; nur daran konnte man Klasse erkennen; jetzt wäre der Augenblick vielleicht für eine Zigarre gewesen, aber nicht für Trinkgeld, und keinesfalls für ein so hohes: den grünen Zwanziger, den er grinsend über die Theke schob. Wie dumm die Leute sind. Kennen nicht die primitivsten Gesetze der Menschenbehandlung, nicht die einfachsten Gesetze der Portierbehandlung; als wenn im Prinz Heinrich ein Geheimnis überhaupt zu verkaufen wäre; als wenn ein Gast, der vierzig oder sechzig fürs Zimmer zahlt, um einen grünen Zwanziger zu haben wäre; zwanzig von einem Unbekannten, dessen einziger Ausweis seine Zigarre und sein Anzugstoff ist. Und so was wurde dann Minister, vielleicht Diplomat und kannte nicht einmal das kleine Einmaleins der schwierigsten aller Künste, der Bestechung. Betrübt schüttelte Jochen den Kopf, ließ den grünen Schein unberührt. Voll ist ihre Rechte von Geschenken.

Kaum zu glauben: dem grünen Schein wurde ein blauer hinzugelegt, das Angebot auf dreißig erhöht, eine dicke Wolke Partagas-Eminentes-Duft in Jochens Gesicht gepustet.

Blas du nur, puste mir nur deinen Viermarkzigarrenrauch ins Gesicht, und leg noch ’nen violetten Schein hinzu. Jochen ist nicht zu kaufen. Nicht für dich und nicht für dreitausend; ich hab nicht viele Menschen in meinem Leben gemocht, aber den Jungen hab ich gern. Pech gehabt, Freund mit dem gewichtigen Gesicht, mit der unterschriftsträchtigen Hand, eineinhalb Minuten zu spät gekommen. Du müsstest doch riechen, dass Geldscheine hier das am wenigsten Angebrachte sind, bei mir. Ich hab sogar einen Vertrag in der Tasche, notariell bestätigt, dass ich auf Lebenszeit mein Kämmerchen da oben unterm Dach bewohnen, meine Tauben halten darf; ich kann mir zum Frühstück, zum Mittagessen aussuchen, worauf ich Lust habe und krieg noch einhundertundfünfzig Mark monatlich bar in die Hand gedrückt, dreimal soviel, wie ich wirklich für meinen Tabak brauche; ich hab Freunde in Kopenhagen, in Paris und Warschau und Rom – und wenn du wüsstest, wie Brieftaubenleute zusammenhalten —, aber du weißt ja nichts, glaubst nur zu wissen, dass man mit Geld alles erreichen kann; das sind so Lehren, wie ihr sie euch selbst erteilt. Und natürlich, Hotelportiers, die tun um Geld alles, verkaufen dir ihre eigene Großmutter für einen violetten Fünfziger. Nur eins darf ich hier nicht, Freund, eine einzige Ausnahme hat meine Freiheit: ich darf hier unten, wenn ich Portierdienst tue, nicht meine Pfeife rauchen, und diese Ausnahme bedaure ich heute zum ersten Mal, sonst würde ich deiner Partagas Eminentes meinen schwarzen Krausen entgegenpusten. Du kannst mich – deutlich und klar ausgesprochen – ein paar hundert und siebenundzwanzigmal am Arsch lecken. Den Fähmel verkauf ich dir nicht. Der soll ungestört von halb zehn bis elf da oben Billard spielen, obwohl ich Besseres für ihn zu tun wüsste; nämlich: an deiner Stelle im Ministerium zu sitzen. Oder zu tun, was er in seiner Jugend getan hat: Bomben zu werfen, um Drecksäcken wie dir den Hosenboden einzuheizen. Aber bitte, wenn er von halb zehn bis elf Billard spielen will, so soll er, und ich bin dazu da, dafür zu sorgen, dass niemand ihn stört. Und jetzt kannst du die Geldscheine wieder wegnehmen und die Platte putzen, und wenn du jetzt noch einen Geldschein hinlegst, weiß ich nicht, was passiert. Ich hab Taktlosigkeiten mit dem Schaumlöffel gefressen und Geschmacklosigkeiten zentnerweise mit duldender Miene über mich ergehen lassen, hab Ehebrecher und Schwule hier in meine Liste eingetragen, wildgewordene Ehefrauen und Hahnreie abgewimmelt – und glaub nicht, dass mir das an der Wiege gesungen worden ist. Ich war immer ein braver Junge, war Messiener, wie du es bestimmt warst, und hab im Kolpingverein die Lieder vom Vater Kolping und vom Heiligen Aloisius[10] gesungen; da war ich zwanzig und tat schon sechs Jahre in dieser Bude Dienst. Und wenn ich den Glauben an die Menschheit nicht verloren habe, dann nur, weil es ein paar gibt, die wie der junge Fähmel und seine Mutter sind. Steck dein Geld weg, nimm die Zigarre aus dem Mund, mach eine höfliche Verbeugung vor einem alten Mann wie mir, der mehr Laster gesehen hat, als du dir Träumen lässt, lass dir von dem Boy da hinten die Drehtür aufhalten und verschwinde.

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10

Aloisius von Gonzaga (*9. März 1568 in Castiglione delle Stiviere (bei Mantua, Norditalien), † 21. Juni 1591 in Rom) – Schutzpatron der Jugend gehört zu den in jungen Jahren gestorbenen Heiligen. Aloisius wurde heilig gesprochen im Jahr 1726.