»Wir wurden angegriffen«, sagte Jace knapp. »Forsaken.« »Forsaken-Krieger? Hier?«
»Nur einer«, erwiderte Jace. »Jedenfalls haben wir nur einen gesehen.«
»Aber Madame Dorothea hat gesagt, es seien mehrere«, fügte Clary hinzu.
»Madame Dorothea?« Hodge hob die Hand. »Vielleicht wäre es sinnvoller, wenn ihr der Reihe nach erzählt.«
»Stimmt.« Jace warf Clary einen eindringlichen Blick zu, der sie verstummen ließ. Dann berichtete er von den Ereignissen des Nachmittags, wobei er nur ein Detail verschwieg – dass die Männer in Lukes Wohnung dieselben gewesen waren, die vor sieben Jahren seinen Vater getötet hatten. »Der Freund von Clarys Mutter, oder was immer er tatsächlich ist, nennt sich Luke Garroway«, schloss Jace. »Aber als wir bei ihm in der Wohnung waren, nannten ihn die beiden Männer, die sich als Abgesandte Valentins ausgaben, Lucian Graymark.«
»Und ihre Namen lauteten …«
»Pangborn und Blackwell«, sagte Jace.
Hodge war blass geworden. Die lange, deutlich hervortretende Narbe auf seiner grauen Wange erinnerte an einen gezackten roten Draht. »Wie ich es befürchtet hatte«, sagte er halb zu sich selbst. »Der Kreis erneuert sich.«
Clary schaute Jace fragend an, aber dieser schien ebenso verwirrt wie sie selbst. »Der Kreis?«, fragte er.
Hodge schüttelte den Kopf, als wolle er sein Hirn von Spinnweben befreien. »Kommt mit. Es ist an der Zeit, dass ich euch etwas zeige.«
Die Gaslampen in der Bibliothek brannten und die polierten Oberflächen der Eichenmöbel schimmerten wie dunkle Edelsteine. Die starren Gesichter der Engel, die den riesigen Schreibtisch stützten, wirkten im Halbschatten noch schmerzverzerrter. Clary setzte sich auf das rote Sofa und zog die Beine an, während Jace sich gegen die Armlehne auf ihrer Seite lehnte. »Hodge, wenn du Hilfe brauchst …«
»Nein, nein.« Hodge tauchte wieder hinter seinem Schreibtisch auf und wischte sich den Staub von den Knien. »Ich habe es schon gefunden.«
Er hielt ein großes Buch in einem braunen Ledereinband in den Händen, blätterte eifrig die Seiten um und blinzelte wie eine Eule hinter seiner Brille. »Wo … wo ist es bloß … ah, hier ist es ja!« Er räusperte sich und las dann laut vor: »Hiermit gelobe ich dem Kreis und seinen Statuten bedingungslosen Gehorsam … Ich bin bereit, jederzeit mein Leben für den Kreis zu opfern, um die Reinheit der Abstammungslinie von Idris zu bewahren und die Welt der Irdischen zu beschützen, mit deren Sicherheit wir betraut sind.«
Jace verzog das Gesicht. »Was ist das?«
»Der Treueschwur, den der Kreis von Raziel vor zwanzig Jahren leistete«, erwiderte Hodge mit seltsam müder Stimme. »Klingt unheimlich«, sagte Clary. »Wie eine faschistische Organisation oder so etwas.«
Hodge legte das Buch auf den Tisch. Er wirkte so ernst und gequält wie die Engelsstatuen unter der Tischplatte. »Der Kreis war eine Gruppe von Schattenjägern«, erklärte er langsam, »angeführt von Valentin, die alle Bewohner der Schattenwelt vernichten und die Welt wieder zu einem ›reineren‹ Ort machen wollten. Sie wollten warten, bis die Schattenwesen zur Unterzeichnung des Abkommens in Idris eintreffen würden.
Das Abkommen muss alle fünfzehn Jahre erneut unterzeichnet werden, damit seine magische Kraft erhalten bleibt«, fügte er zum besseren Verständnis für Clary hinzu. »Dann wollten sie all die Unbewaffneten und Wehrlosen abschlachten. Sie glaubten, durch diese schreckliche Tat würde ein Krieg zwischen Menschen und Schattenwesen ausbrechen – den sie gewinnen wollten.«
»Der Aufstand!«, sagte Jace, als er in Hodges Geschichte endlich etwas erkannte, das ihm bereits vertraut war. »Ich wusste nicht, dass Valentin und seine Anhänger einen Namen hatten.«
»Der Name fällt heute nicht mehr oft«, erläuterte Hodge.
»Die Existenz dieser Gruppe ist für den Rat noch immer beschämend und die meisten Dokumente, die den Kreis betreffen, wurden inzwischen vernichtet.«
»Warum besitzt du dann eine Abschrift des Treueschwurs?«, fragte Jace.
Hodge zögerte – nur einen kurzen Moment, aber Clary sah es und wurde von einer unerklärlichen dunklen Vorahnung ergriffen. »Weil ich daran mitgearbeitet habe, diesen Schwur zu verfassen«, erklärte er schließlich.
Jace schaute auf. »Du hast dem Kreis angehört?«
»Ja. Viele von uns haben dem Kreis angehört.« Hodge blickte starr geradeaus. »Clarys Mutter auch.«
Clary wich zurück, als habe er ihr eine Ohrfeige verpasst.
»Was?«
»Ich sagte …«
»Ich weiß, was Sie gesagt haben! Meine Mutter hätte so einem Kreis niemals angehört. So einer … einer Hassgruppierung.«
»Es war keine …«, setzte Jace an, doch Hodge unterbrach ihn.
»Ich bezweifle«, sagte er leise, als schmerzten ihn die Worte, »dass sie eine Wahl hatte.«
Clary sprang auf. »Wovon reden Sie? Warum sollte sie die nicht gehabt haben?«
»Sie hatte keine Wahl, weil sie Valentins Frau war.«
II
Leicht ist Der Abstieg
Facilis descensus Averni:
Noctes atque dies patet atri ianua Ditis. Sed gradium revocare superasque evadere ad auras; Hoc opus, hic labor, est.
Der Abstieg zur Hölle ist leicht:
Tag und Nacht steht offen das Tor zum finsteren Pluto. Aber den Schritt zurück zu den himmlischen Lüften zu wenden, Das ist die schwierigste Kunst.
10
City of Bones
Einen Moment herrschte ungläubiges Schweigen, dann begannen Clary und Jace durcheinanderzureden.
»Valentin hatte eine Frau? Er war verheiratet? Ich dachte …«
»Das ist unmöglich! Meine Mutter würde nie … Sie war nur ein einziges Mal verheiratet, und zwar mit meinem Vater. Sie hatte keinen Exmann!«
Hodge hob abwehrend die Hände. »Kinder …«
»Ich bin kein Kind.« Clary wandte sich vom Tisch ab. »Und ich will nichts mehr hören.«
»Clary«, sagte Hodge. Die Freundlichkeit in seiner Stimme schmerzte sie. Langsam drehte sie sich um und schaute ihn an. Wie seltsam es doch war, dachte sie, dass er mit seinen grauen Haaren und seinem vernarbten Gesicht so viel älter wirkte als ihre Mutter. Und doch waren sie damals beide »junge Leute« gewesen, waren gemeinsam dem Kreis beigetreten und hatten beide Valentin gekannt. »Meine Mutter hätte niemals …«, setzte sie an, verstummte dann aber. Sie war sich nicht mehr sicher, wie gut sie Jocelyn wirklich kannte. Ihre Mutter war für sie zu einer Fremden geworden, einer Lügnerin, die Geheimnisse vor ihr verborgen hatte. Was hätte sie niemals getan?, fragte Clary sich.
»Deine Mutter hat den Kreis verlassen«, sagte Hodge. Er trat nicht auf sie zu, sondern beobachtete sie ruhig mit den wachen Augen eines Vogels von der anderen Seite des Raums aus. »Als wir erkannten, welch extreme Ansichten Valentin entwickelt hatte, als wir begriffen, wozu er bereit war, traten viele von uns aus. Lucian war der Erste. Das war ein schwerer Schlag für Valentin, denn die beiden standen sich sehr nahe.« Hodge schüttelte den Kopf. »Dann ging Michael Wayland. Dein Vater, Jace.«
Jace zog die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts.
»Und dann gab es noch diejenigen, die loyal blieben. Pangborn. Blackwell. Die Lightwoods …«
»Die Lightwoods? Du meinst Robert und Maryse?« Jace sah aus, als hätte ihn der Blitz getroffen. »Was ist mit dir? Wann bist du ausgetreten?«
»Gar nicht«, antwortete Hodge leise. »Ebenso wenig wie Robert und Maryse. Wir hatten Angst … Angst vor dem, was Valentin vielleicht tun würde. Nach dem Aufstand flohen die Loyalisten, wie Blackwell und Pangborn. Wir blieben und kooperierten mit dem Rat. Wir gaben ihnen Namen und halfen, diejenigen aufzuspüren, die geflohen waren. Dafür wurde uns eine mildere Strafe zuteil.«
Übers. J. Götte.