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Aber der Deputiertenkandidat schenkte dem Verstoß gegen die Pioniersetikette keine weitere Beachtung.

„Von der Fabrik?“, wiederholte er und fing gleich an zu erzählen. „Die Fabrik ‚Hammer und Sichel‘ hieß früher Guschon-Fabrik… Ich kam 1921 dorthin, nach der Demobilisierung. Sie erinnerte damals an einen Friedhof – so still und verlassen war alles. Das war das typische Bild einer Fabrik der damaligen Zeit: Die Ausstattung verrostete und ging kaputt, gearbeitet wurde nur in den Betriebswerkstätten. Das war die Zeit der ‚Feuerzeuge‘, wie man damals sagte. Die Arbeiter stellten Feuerzeuge her, Zündhölzer gab es schließlich fast gar keine in dieser Zeit des allgemeinen Zusammenbruchs! Es wurden auch andere gängige Waren hergestellt, die man bei den Bauern gegen Brot und Kartoffeln tauschen konnte. Im Siemens-Martin-Werk ‚Hammer und Sichel‘, wohin es mich verschlug, war nur ein vier Tonnen schwerer Ofen in Betrieb. Dass er überhaupt funktionierte, war ein Wunder. Mir, der aus der Roten Armee kam und an Disziplin und Ordnung gewöhnt war, kam das, was ich im Werk sah, barbarisch vor: Die Arbeiter verhielten sich der Fabrik gegenüber fordernd, um nicht zu sagen ausbeuterisch. Sie erzeugten Äxte, Bandeisen und anderes, das man gegen Lebensmittel tauschen konnte. Das Eisen wurde geplündert und verschwand durch die Tore. Die große Masse bestand durchgehend aus Egoisten und Spießbürgern. Aber es waren auch einige wenige ehrliche, pflichtbewusste Arbeiter in der Fabrik geblieben. Eine Gruppe solcher Genossen lauerte diesen Selbstsüchtigen auf und konnte sie schnappen, als diese Eisen aus der Fabrik hinausschleppten. Und jetzt noch einige Zahlen, die das Wachstum unserer Fabrik zeigen.“

Und Siljin öffnete die schwarze Aktenmappe aus Leder, die bis zu diesem Moment auf seinen Knien geruht hatte, holte ein Blatt Papier daraus hervor und las laut vor:

„ ‚1921 war in der Fabrik nur ein Ofen in Betrieb, an den besseren Tagen schmolz er zwanzig Tonnen pro Tag, und das galt als viel. Jetzt haben wir vier neue Öfen, die siebenhundertfünfzig Tonnen Stahl pro Tag produzieren, und es wurde bereits ein Rekord verzeichnet – neunhundertachtundvierzig Tonnen Stahl pro Tag.‘ Was ist noch zu sagen?“ Siljin blickte hoch. „Damals, im 21er-Jahr, stellte die Fabrik drahtgebundene Nägel, Haken, Bandeisen und anderes so genanntes ‚Handelseisen‘ her, und jetzt schmelzen wir hochwertigen Stahl, der zur Stärkung der Verteidigungsfähigkeit der Republik dient. Aber mir scheint, dass das noch nicht alles ist, was man produzieren kann. Es muss immer weiter vorwärts gehen!“

Nachdem er seine Antwort auf die letzte Frage beendet hatte, seufzte der Deputiertenkandidat und sah auf seine Armbanduhr, dann blickte er die Pioniere an. Da sah er auch schon drei erhobene Hände: zwei Jungen und ein Mädchen, die etwas fragen wollten. Er nickte dem Mädchen zu, das stand auf und fragte:

„Und wie wurden Sie Direktor der Fabrik?“

„Nun, dafür muss man lernen, lernen und lernen…“, Siljin wedelte mit den Armen. „Ich habe also die Abendschule für Arbeiter besucht, dann wurde ich Meister, und zu Beginn des 27er-Jahres wurde ich in das Betriebs-Gewerkschaftskomitee gewählt. Und 1929, erinnere ich mich, gab es einen schweren Unfall mit dem erst kurz zuvor neu in Stand gesetzten Siemens-Martin-Ofen. Ein Teil der Kuppel über den Regenerationskammern stürzte plötzlich ein. Das ist ein sehr enger und vor allem ungewöhnlich heißer Ort, dort kann man nicht hineinklettern. Alle waren außer sich. Den Ofen für die Reparatur außer Betrieb zu setzen, war undenkbar, ihn weiter in Betrieb zu haben, unmöglich. Durch den Unfall drohte der Ofen für einen Monat auszufallen – das sind viereinhalbtausend Tonnen Stahl! Der Werksleiter kam angelaufen. Ich schlug vor, trotz der hohen Temperatur in der Kuppel hineinzukriechen, ein Blech anzubringen und den Durchbruch zu verdecken. So etwas hatte man in der Praxis noch nicht gehört, ich bestand jedoch darauf, dass sich nach dem Aufhängen des Blechs die Temperatur in der Kuppel senken würde. Und tatsächlich: Sobald das Blech aufgehängt war, wurde es kühler, ich verdeckte also das Loch nach meinem Verfahren. Der Ofen konnte normal weiterarbeiten. Dieser Vorfall beförderte mich in die Reihe der besten Ofensetzer im Lande… Na, und da gab es noch viel Ähnliches… Ich muss mich entschuldigen, Genossen Pioniere, aber leider habe ich heute noch zwei Treffen mit Wählern.“

Grigorij Markelowitsch Siljin erhob sich. Die Pioniere schnellten ebenfalls in die Höhe und klatschten so lange, bis ihre Handflächen rot wurden. Auch die beiden alten Lehrerinnen applaudierten und auch jene Lehrer, die gegen Ende des Treffens gekommen waren.

Zum Abschied schenkte die Pioniersgruppe der 5A dem Deputiertenkandidaten einen Abbauhammer als Souvenir, der trotz seiner kleinen Größe ziemlich schwer war. In der linken Hand das Souvenir, in der rechten die Aktenmappe verließ Grigorij Markelowitsch die Rote Ecke, um sich vom Schuldirektor zu verabschieden, aber die Direktion war abgeschlossen, sodass sich der Deputiertenkandidat direkt auf den Weg nach draußen begab, wo ihn sein Dienstwagen, der schwarze „SIM“, erwartete.

Währenddessen saß Wasilij Wasiljewitsch Banow auf dem Dach des dreigeschoßigen Schulgebäudes und sah traurig zu, wie zwischen der Schule und einem fernen, aber doch noch sichtbaren Kremlturm langsam, aber unaufhaltsam ein Koloss von Hochhäusern emporwuchs, an denen gebaut wurde. Schon jetzt war von dem entfernten Turm kaum noch die Spitze mit dem rubinroten Stern zu sehen, und schon das nächste Stockwerk des Neubaus würde diesen Stern für immer verdecken. Das gab dem Direktor der Schule in der Tat Anlass zur Sorge. Es war üblich, zwei Mal im Jahr, nachdem die Rangen bei den Pionieren aufgenommen wurden, diese auf das Dach zu führen und ihnen den sichtbaren Teil des Kremls zu zeigen. Diese Tradition musste nun untergehen, da es ja nichts Interessantes mehr vom Schuldach aus zu sehen gab. Zwar gab es noch den Sonnenuntergang hinter den weit entfernten Häusern, aber den konnte man den Pionieren nicht zeigen, schließlich ging die Sonne immer abends unter, wenn Banows Schützlinge zu Hause saßen und ihre Hausübung machten. Und so blieb dem Schuldirektor nichts anderes übrig, als hin und wieder allein auf sein geliebtes Dach zu steigen und auf den manchmal überwältigend schönen, blutroten Sonnenuntergang zu warten. Inmitten seiner traurigen Grübelei erinnerte sich Banow an seine ruhmreiche revolutionäre Vergangenheit, als er ein echter Maschinengewehrschütze gewesen war und Dächer und Glockentürme gleichfalls leidenschaftlich geliebt hatte, von welchen sich ihm eine unglaubliche Aussicht eröffnete. Ja, damals hatte Banow sowohl eine Aussicht gehabt, als auch ein Maschinengewehr besessen, und alles war einfacher und verständlicher gewesen, obwohl dem Schuldirektor eigentlich auch jetzt nichts sonderlich Unverständliches begegnete. Vielleicht lag es daran, dass diese Zeit mit Wasilij Wasiljewitschs wilder Jugend zusammenfiel, während er sich gegenwärtig aufgrund eines Unwohlseins nicht gerade glänzend fühlte und darüber hinaus im Leben häufig aus dem Konzept geraten war wegen dessen maßloser Kompliziertheit und wegen eines Übermaßes an unterschiedlichsten Erfolgen: Jedenfalls empfand er immer weniger Lebensfreude. Wie immer man es auch drehen und wenden mochte, ganz offensichtlich rückte das Alter langsam und unausweichlich näher, so als wüsste es, dass er kein Maschinengewehr mehr besaß, und es ihn deshalb auch gar nicht mehr fürchtete. Manchmal zeigte es sogar sein Antlitz im kleinen rechteckigen Spiegel mit dem abgebrochenen Eck, der an der Rückseite des kaputten Weckers lehnte und schon eine Ewigkeit auf dem Tisch in seinem engen Kämmerchen stand, dem kleinsten der Kommunalwohnung, die er damals, als er seine geliebte „Maxim“[2] besaß, noch allein bewohnt hatte. Erst später, als es „Maxim“ nicht mehr gab, waren andere Bewohner hinzugekommen, die ihn erst bedrängt, und schließlich vollständig verdrängt hatten, als ob er jemand Unbedeutender und auf dieser Erde nutzlos wäre.

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Maschinenpistole