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Mein Schmerz war groß, als ich sah, wie der blinde Vater sich niederbeugte und mit den Fingern über den toten Leib seines Sohnes strich. Niemals vergesse ich seine Worte: ‘Mein geliebter Sohn, warum bist du so still und leblos? Wenn du böse auf mich bist, so sag mir, womit ich dich erzürnt habe.’

Nachdem er so gesprochen, erinnerte er sich, was geschehen. ‘O Yama, du Gott des Todes, nimm meinen unschuldigen Sohn, den dieser Sünder getötet, im Wohnsitz der Helden auf. Gib ihm deinen Segen, Yama, und befreie uns von Schmerz und Furcht. Auch wenn du niederer Herkunft bist, mein Sohn, wirst du durch das heilige Feuer zum Himmel aufsteigen, und dieser junge Königssohn, der dich getötet, wird ein elendes Ende nehmen!’

Dann sah ich, o Königin, wie die Eltern des Jünglings Holz sammelten und den toten Leib ihres geliebten Sohnes den Flammen übergaben. Ich aber verließ sie mit Kummer im Herzen. Die Zeit ließ mich den Fluch des Vaters vergessen, heute aber ist der Tag gekommen, wo ich für die böse Tat bestraft werde, die ich ohne Absicht in meiner Jugend beging.

Komm näher zu mir, meine Gemahlin, der Kummer um meinen geliebten Rama bricht mir das Herz. Meine Augen sind trübe, ich kann nichts mehr sehen, auch die Erinnerungen schwinden. Wo ist mein tugendhafter Rama, der Held der Wahrheit? Gesegnet seien alle, die das Antlitz meines Sohnes erblicken, wenn er einst nach Ayodhya zurückkehrt. O Rama, mir bricht das Herz, weil du fern von mir bist. O Kausalya, o tugendhafte Sumitra und auch du, grausame Kaikeyi, die das Glück meiner Familie zerstört. Ich scheide nun von euch!“

Überwältigt vom Leid, starb König Dasharatha in Gegenwart von Ramas Mutter Kausalya und der Königin Sumitra.[1]

Hier unterbrach die schöne Sita ihre Lektüre. Holkar hatte ihr gedankenversunken zugehört. Corcoran war tiefbewegt und betrachtete bewundernd das weiche und anmutige Antlitz des jungen Mädchens.

Währenddessen war es bereits Mitternacht geworden, und Holkar war im Begriff, seinen Gast zu entlassen, als Ali in den Hof trat und sich wortlos an seinen Herrn wandte, wobei er die Hände dachförmig zum Gruß vor den Lippen zusammenlegte.

„Was ist? Was willst du?“ fragte Holkar.

„Kann ich sprechen?“ fragte der Sklave, wobei er mit den Augen auf Corcoran wies.

Dieser wollte sich diskret zurückziehen, doch Holkar hielt ihn mit einer Handbewegung zurück.

„Bleiben Sie“, sagte er, „Sie stören keineswegs… Und du, sprich“, sagte er, an Ali gerichtet.

„Herr“, fuhr Ali fort, „soeben ist eine Nachricht von Tantia Topee eingetroffen.“

„Von Tantia Topee!“ rief Holkar, und seine Augen blitzten vor Freude. „Kommt er also doch.“

Ein Bote betrat den Hof. Es war ein halbnackter Fakir mit bronzefarbener Haut, dessen unbeweglicher Gesichtsausdruck weder Schmerz noch Freude zu kennen schien. Er warf sich vor Holkar nieder und wartete schweigend, daß dieser ihm den Befehl geben würde, sich zu erheben.

„Wer bist du?“ fragte Holkar.

„Ich heiße Sugriva.“

„Brahmane?“

„Brahmane. Tantia Topee schickt mich.“

„Welches ist das Zeichen deiner Mission?“

„Dies hier“, erwiderte der Fakir.

Dabei zog er aus seinem Lendenschurz, der ihm als einziges Kleidungsstück diente, eine Art bizarr geschnittenes Tuch, auf das einige Worte in Sanskrit gestickt waren.

Holkar schrie auf, nachdem er das Tuch einige Zeit aufmerksam gemustert hatte.

„Der Augenblick ist gekommen“, sagte er.

„Ja“, antwortete der Fakir. „Der Aufstand hat heute in Meerut begonnen.“

„Kapitän“, sagte Holkar, „Sie haben mir anvertraut, daß Sie die Engländer nicht mögen.“

„Nun, ich verabscheue sie nicht gerade“, entgegnete Corcoran, „aber ich mache mir auch keine großen Gedanken, was ihnen widerfahren könnte.“

„Nun wohl, Kapitän! Es dauert nicht mehr lange, und Colonel Barclay wird mit seiner Armee umkehren.“

„Wirklich?“ erwiderte Corcoran. „Und der Fakir hat Ihnen diese Neuigkeiten übermittelt?“

„Ja“, antwortete Holkar. „Dieser Fakir ist ein verläßlicher Mann, der meinem Freund Tantia Topee als Bote dient.“

„Und wer ist Euer Freund Tantia Topee?“

„Das werde ich Ihnen morgen sagen. Colonel Barclay wird nicht vor drei Tagen hiersein; wir haben also noch zwei Tage Zeit. Wenn Sie wollen, werden wir morgen auf Rhinozerosjagd gehen. Das Rhinozeros ist ein königliches Wild, und in ganz Indien findet man heute nicht mehr als zweihundert Stück davon. Ein seltenes Vergnügen. Bis morgen, Kapitän.“

„Übrigens“, warf Corcoran noch ein, bevor er den Innenhof verließ, „was habt Ihr eigentlich mit diesem Rao gemacht? Wollt Ihr ihn nicht aburteilen lassen?“

„Rao!“ entgegnete Holkar. „Er wurde bereits abgeurteilt, Kapitän. Vor dem Abendessen hatte ich bereits den Befehl gegeben, ihn zu pfählen.“

„Teufel noch eins!“ rief Corcoran aus. „Ihr habt es ja eilig, Fürst Holkar.“

„Mein Freund“, erwiderte Holkar, „wie gefangen, so gehangen – das ist meine Maxime. Sie haben doch nicht etwa gedacht, daß ich hier einen Gerichtshof abhalte wie in Kalkutta? Bevor der Staatsanwalt die Anklage verlesen und der Verteidiger sein Plädoyer gehalten hätte, bevor ihn die Richter für schuldig befunden hätten, wären die Engländer vielleicht schon in Bhagavapur und würden das Leben dieses Schurken, ihres Komplizen, gerettet haben. Nein, nein, er wird gleich für alles bezahlen, er wird gepfählt.“

„Ich frage nur aus Neugier danach“, sagte Corcoran und streckte sich, denn er verspürte plötzlich das dringende Bedürfnis nach Schlaf. „Gute Nacht, Fürst Holkar.“

Und Ali, der ihm den Weg wies, folgend, betrat er seine Schlafkammer.

6. Eine unruhige Nacht

Aber dem tüchtigen Kapitän war es nicht beschieden, in dieser Nacht Ruhe zu finden. Kaum hatte er sich auf seinem Bett ausgestreckt, als von draußen Lärm zu ihm drang. Corcoran richtete sich auf, stützte sich auf einen Ellenbogen, pfiff kurz nach Louison und flüsterte: „Achtung, Louison! Aufgepaßt!“

Louison blickte den Kapitän aufmerksam an, spitzte die Ohren, wedelte leicht mit dem Schwanz, um anzuzeigen, daß sie den Befehl Corcorans verstanden habe, erhob sich geschmeidig, schritt direkt zur Zimmertür, lauschte und trottete seelenruhig zu Corcoran zurück, als wolle sie von ihm neue Befehle entgegennehmen.

„Aha“, sagte dieser, „ich verstehe, meine Liebe. Du meinst, daß es keinen Anlaß zur Sorge gibt? Um so besser, denn ich möchte ein wenig schlafen. Und du?“

Die Tigerin spitzte leicht ihre Lippen mit dem Schnurrbart, dessen Spitzen spitzer als eine Degenspitze (überspitzt gesagt) waren. Auf diese Art lächelte sie.

Doch da vernahmen sie Schritte auf der Galerie, und Louison wandte sich wieder der Tür zu, aber es schien dennoch keine Gefahr im Anzug zu sein, denn ebenso rasch wandte sie sich wieder um und ließ sich zu Füßen ihres Herrn nieder. Jemand klopfte an die Tür.

Corcoran erhob sich halb bekleidet, griff zu seinem Revolver und ging öffnen. Es war Ali, der gekommen war, um ihn zu wecken.

„Herr“, sagte er mit einem bestürzten Ausdruck im Gesicht, „Fürst Holkar bittet Euch, zu ihm zu eilen. Es ist ein großes Unglück geschehen. Rao, von dem man glaubte, er wäre gepfählt worden, hat seine Wärter bestochen und ist mit ihnen geflohen!“

„Na so was“, entgegnete Corcoran. „Scheint nicht auf den Kopf gefallen zu sein, dieser Rao.“

Während ihm Ali in kurzen Worten den Vorfall schilderte, kleidete sich Corcoran an. „Seine Hoheit fürchtet vor allem“, sagte Ali, „daß er sich zu den Engländern durchschlagen wird, die vor der Stadt stehen. Sugriva ist bereits auf sie getroffen.“

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1

aus: Das Ramayana. Nach dem Epos des Valmiki neu erzählt von Willi Meinck. Verlag Neues Leben, Berlin 1976