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Da er fortging, blieb sein letztes Wort und Lächeln bei mir zurück, erklang mit dem Lied zusammen, das er gesungen hatte, und mit allem, was ich bis jetzt von dem Manne wusste. Und je länger ich das alles bei mir trug und betrachtete, desto deutlicher wurde es, und am Ende verstand ich diesen Menschen. Ich verstand, warum er zu mir gekommen war, warum mein Lied ihm gefiel, warum er so fast unbescheiden in mich drang und mir halb scheu, halb frech erschienen war. Er litt, er trug einen schweren Schmerz, und er war von Einsamkeit ausgehungert wie ein Wolf. Dieser Leidende hatte es mit dem Stolz und dem Alleinsein versucht und es nicht ausgehalten, er lag auf der Lauer[29] nach Menschen, nach einem guten Blick und einem Hauch von Verständnis, und war bereit, sich wegzuwerfen dafür. So dachte ich es mir damals.

Mein Gefühl gegen Heinrich Muoth war nicht klar. Ich fühlte wohl sein Verlangen und seine Not, doch hatte ich Furcht vor ihm als einem überlegenen und grausamen Menschen, der mich verbrauchen und liegenlassen könnte. Ich war zu jung und hatte zuwenig Menschliches erlebt, um das zu verstehen und zu billigen, wie er sich gleichsam nackt hingab und kaum die Scham des Schmerzes zu kennen schien. Doch sah ich auch, dass hier ein glühender und inniger Mensch litt und verlassen war. Es fielen mir ungesucht die Gerüchte ein, die ich über Muoth gehört hatte, undeutliches ängstliches Schülergerede, dessen Farbe und Ton aber mein Gedächtnis wohl bewahrt hatte. Man erzählte von ihm tolle Frauengeschichten und Abenteuer, und ohne dass mir das einzelne erinnerlich gewesen wäre, glaubte ich doch noch irgend etwas Blutiges zu wissen, als sei er in die Geschichte eines Mordes oder Selbstmordes verwickelt gewesen.

Als ich bald darauf meine Scheu bezwang und einen Kameraden darüber fragte, zeigte sich die Sache harmloser, als sie mir erschienen war. Muoth hatte, wie es hieß, ein Liebesverhältnis mit einer jungen Dame aus der guten Gesellschafft unterhalten, und diese hatte sich allerdings vor zwei Jahren das Leben genommen, doch ohne dass man von einer Verwicklung des Sängers in diese Geschichte mehr als in vorsichtigen Andeutungen zu reden wagen durfte. Vermutlich hatte meine eigene Phantasie, durch die Begegnung mit dem eigenartigen und mir leise unheimlichen Menschen erregt, jenen Duft von Schrecken um ihn geschaffen. Doch musste er immerhin mit jener Liebe Böses erlebt haben.

Ich hatte nicht den Mut, zu ihm zu gehen. Wohl konnte ich mir nicht verbergen, dass Heinrich Muoth ein leidender und vielleicht verzweifelnder Mensch sei, der nach mir griffe und begehre, und manchmal schien mir, ich müsse dem Rufe folgen und wäre ein Schelm, wenn ich es nicht täte. Dennoch ging ich nicht hin, ein anderes Gefühl hinderte mich. Was Muoth bei mir suchte, konnte ich ihm nicht geben, ich war ein ganz anderer Mensch als er, und wenn ich auch in mancher Hinsicht einsam und nicht recht verstanden unter den Leuten stand, wenn ich auch vielleicht anders war als jedermann, durch Schicksal und durch Veranlagung von den meisten getrennt, so wollte ich doch davon kein Aufhebens machen[30]. Mochte der Sänger ein dämonischer Mensch sein, ich war keiner, und mich hielt ein inneres Bedürfnis vom Auffallenden und Besonderen ab. Ich hatte eine Abneigung und einen Widerwillen gegen Muoths heftige Gebärde, er war ein Mann der Bühne und der Abenteuer, schien mir, und vielleicht dazu bestimmt, ein tragisches und weithin sichtbares Schicksal zu leben. Ich hingegen wollte in der Stille bleiben, mir standen Gebärden und kühne Worte nicht an, ich war zur Resignation bestimmt. So rätselte ich hin und wider, im Bedürfnis nach Beruhigung. Es hatte ein Mensch an meiner Tür geklopft, der mir leid tat und den ich vielleicht gerechterweise über mich stellen musste, aber ich wollte Ruhe haben und ihn nicht einlassen. Eifrig warf ich mich auf die Arbeit und ward die plagende Vorstellung nicht los, es stehe hinter mir einer, der nach mir greife.

Da ich nicht kam, nahm Muoth die Sache wieder selber in die Hand[31]. Ich erhielt ein Brieflein von ihm, das war in großen stolzen Zügen geschrieben und lautete:

»Lieber Herr! Am elften Januar pflege ich mit einigen Freunden meinen Geburtstag zu feiern. Darf ich Sie dazu einladen? Schön wäre es, wenn wir bei diesem Anlass Ihre Violinsonate hören könnten. Was meinen Sie dazu? Haben Sie einen Kollegen, mit dem Sie sie spielen können, oder soll ich Ihnen jemand schicken? Stefan Kranzl wäre bereit. Sie würden eine Freude machen Ihrem

Heinrich Muoth.«

Das hatte ich nicht erwartet. Ich sollte meine Musik, um die noch niemand wusste, vor Kennern spielen, und ich sollte mit Kranzl zusammen geigen! Beschämt und dankbar sagte ich zu und wurde schon nach zwei Tagen von Kranzl aufgefordert, ihm die Noten zu schicken. Und wieder nach ein paar Tagen lud er mich ein. Der beliebte Geiger war noch jung, ein Mann vom Virtuosen-zuschnitt[32], sehr schmal und schlank und blass.

»So«, sagte er gleich bei meinem Eintreten, »Sie sind also der Freund von Muoth. Ja, da wollen wir gleich anfangen. Wenn wir aufpassen, wird’s nach zwei, dreimal schon gehen.«

Damit setzte er mir einen Stuhl hin, legte mir die zweite Geigenstimme vor, markierte den Takt und fing an, mit seinem leicht empfindlichen Strich, dass ich daneben ganz zusammensank.

»Nur nicht so schüchtern!«, rief er mir zu, ohne das Spiel zu unterbrechen, und wir spielten das Ganze durch.

»So, es geht ja!«, sagte er, »Schad, dass Sie keine bessere Geigen haben. Tut aber nichts. Das Allegro nehmen wir dann aber ein bissel schneller, dass man’s nicht für einen Trauermarsch anschaut. Los!«

Und da spielte ich nun neben dem Virtuosen ganz zutraulich meine Noten herunter, meine einfache Geige klang mit seiner kostbaren zusammen, als müsse es so sein, und ich war erstaunt, den apart aussehenden Herrn so zwanglos, ja naiv zu finden. Als ich warm geworden und etwas zu Mut gekommen war[33], fragte ich ihn zögernd nach seinem Urteil über meine Komposition.

»Da müssens ein andern fragen, lieber Herr, ich versteh nit viel davon. Ein bissel sonderbar ist’s schon, aber das haben die Leut ja gern. Wann’s dem Muoth gefällt, könnens sich schon was einbilden, der frisst nicht alles.«

Er gab mir Ratschläge wegen des Spiels und zeigte mir einige Stellen, denen Änderungen not taten. Dann wurde auf morgen eine weitere Probe verabredet, und ich konnte gehen.

Es war mir ein Trost, diesen Geigenmann so einfach und bieder zu finden. Wenn der zu Muoths Freunden gehörte, konnte ich dort zur Not auch bestehen. Freilich war er ein fertiger Künstler und ich ein Anfänger ohne große Aussichten. Leid tat mir nur, dass niemand sich so offen über meine Arbeit äußern wollte. Das härteste Urteil wäre mir lieber gewesen als diese gutmütigen Sprüche, die nichts sagten.

Es war in jenen Tagen bitter kalt, man konnte es kaum erheizen. Meine Kameraden liefen eifrig Schlittschuh. Es jährte sich seit unserem Ausflug mit Liddy. Für mich war das keine gute Zeit, und ich freute mich auf den Abend bei Muoth, ohne mir sonst viel davon zu versprechen, nur weil ich solang keine Freunde und keine Fröhlichkeit mehr gesehen hatte. In der Nacht vor dem elften Januar erwachte ich an einem ungewohnten Geräusch und einer fast erschreckenden Wärme der Luft. Ich stand auf und ging ans Fenster, verwundert, dass es nimmer kalt war. Da war plötzlich der Südwind gekommen, es wehte gewaltig feucht und lau, in der Höhe schob der Sturm große schwerfällige Wolkenzüge vor sich über den Himmel, an dem in schmalen Lücken einzelne Sterne sonderbar groß und blendend strahlten. Die Dächer hatten schon schwarze Flecken, und am Morgen, als ich ausging, war aller Schnee vergangen[34]. Die Straßen und Gesichter sahen seltsam verändert aus, und über allem schwamm ein verfrühter Hauch von Frühling.

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29

auf Lauer liegen – быть настороже, подстерегать, подкарауливать

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30

Aufh ebens machen – поднимать шум, много говорить (о чём-л.)

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31

die Sache in die Hand nehmen – взять дело в свои руки

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32

ein Mann vom Virtuosenzuschnitt зд. действительно виртуоз

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33

zu Mut kommen – набраться мужества, храбрости

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34

war aller Schnee vergangen – весь снег сошел