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Der Professor schüttelte den Kopf und pfiff vor Hohn, als er fragte: »Aha, Sie wollen Komponist werden?«

»Womöglich«, sagte ich bedrückt.

»Ja, da wünsche ich Ihnen Glück. Ich hätte gedacht, Sie würden jetzt vielleicht mit neuem Eifer ans Üben gehen, aber als Komponist haben Sie das freilich nicht nötig.«

»Oh, so ist es nicht gemeint.«

»Ja, wie denn? Wissen Sie, wenn ein Musikschüler faul ist und nicht arbeiten mag, dann legt er sich immer aufs Komponieren. Das kann jeder, und ein Genie ist ja bekanntlich auch jeder.«

»So meine ich’s wirklich nicht. Soll ich denn Klavierspieler werden?«

»Nein, lieber Herr, dazu würde es Ihnen doch nicht reichen. Aber anständig geigen lernen könnten Sie schon noch.«

»Nun, das will ich auch.«

»Hoffentlich ist’s Ihnen ernst. Möchte mich nicht länger aufhalten. Gute Besserung, Herr, und auf Wiedersehen!«

Damit ging er davon und ließ mich erstaunt zurück. Ich hatte an die Rückkehr zu den Studien noch wenig gedacht. Nun fürchtete ich doch, es möchte wieder schwer und misslich gehen und am Ende alles wieder werden, wie es vorher gewesen war. Doch hielten solche Gedanken nicht lange stand, und es zeigte sich auch, dass der Besuch des mürrischen Professors wirklich gut gemeint und ein Zeichen redlichen Wohlwollens war.

Nach meiner Genesung sollte ich eine Erholungsreise machen, doch zog ich vor, damit bis zu den großen Ferien zu warten und lieber jetzt gleich wieder ins Zeug zu gehen[22]. Da empfand ich zum erstenmal, wie erstaunlich eine Ruhezeit, namentlich eine unfreiwillige, wirken kann. Ich begann meine Stunden und Übungen mit Misstrauen, aber alles ging besser als zuvor. Allerdings sah ich jetzt auch deutlich, dass nie ein Virtuose aus mir werden würde; doch tat diese Erkenntnis mir bei meinem jetzigen Zustand nicht weh. Im übrigen ging es gut, und namentlich hatte sich in der langen Pause das unheimliche Gestrüpp der Musiktheorie, der Harmonie und Kompositionslehre in einen durchaus zugänglichen, heiteren Garten verwandelt. Ich fühlte, dass die Einfälle und Versuche meiner guten Stunden nicht mehr außerhalb aller Regeln und Gesetze lagen, dass innerhalb des strengen Schülergehorsams ein schmaler, doch deutlich erkennbarer Weg zur Freiheit führte. Wohl gab es noch Stunden und Tage und Nächte, da alles wie ein Stachelzaun vor mir lag und ich mit wundem Gehirn mich an Widersprüchen und Lücken abquälte; aber die Verzweiflung kam nicht wieder, und der schmale Pfad wurde deutlicher und gangbarer vor meinen Augen.

Am Schlusse des Semesters sagte mir zu meiner Überraschung unser Theorielehrer bei der Verabschiedung vor den Ferien: »Sie sind der einzige Schüler dies Jahr, der wirklich etwas von Musik zu verstehen scheint. Wenn Sie einmal etwas komponiert haben, würde ich’s gerne ansehen.«

Mit diesem tröstlichen Wort im Ohr reiste ich in die Ferien ab. Ich war längere Zeit nicht mehr zu Hause gewesen, nun trat während der Bahnfahrt die Heimat wieder vor mein Herz, verlangte meine Liebe und rief die Flut halbverlorener Erinnerungen an Kinderzeiten und erste Jünglingsjahre herauf. Am Bahnhof der Heimatstadt empfing mich der Vater, und wir fuhren in einer Droschke nach Hause. Doch trieb es mich gleich am andern Morgen hinaus, einen Gang durch die alten Straßen zu tun. Da umfing mich zum ersten-mal die Trauer um meine verlorene aufrechte Jugend. Es war mir eine Qual, mit meinem gekrümmten und steifen Bein am Stock durch die Gassen zu hinken, wo jede Ecke an Knabenspiele und untergegangene Freuden erinnerte. Ich kam schwermütig nach Hause zurück, und wen ich sah und wessen Stimme ich hörte und woran ich dachte, alles mahnte mich bitter an früher und an mein Krüppeltum. Dabei litt ich darunter, dass meine Mutter offenbar mit meiner Berufswahl weniger als je einverstanden war, obgleich sie das nicht deutlich sagte. Einen Musiker, der schlankbeinig als Virtuos oder schneidiger Dirigent sich zeigen konnte, hätte sie etwa noch gelten lassen; wie aber ein Halblahmer mit mäßigen Zeugnissen und scheuem Wesen als Geiger sich weiterbringen wolle, war ihr unverständlich. In diesen Gedanken wurde sie von einer alten Freundin und entfernten Verwandten unterstützt, der mein Vater einmal das Haus verboten hatte, was sie ihm mit bitterem Hass vergalt, ohne freilich wegzubleiben, denn sie kam während der Kontorstunden des Vaters häufig zu meiner Mutter. Sie mochte mich, mit dem sie seit meiner Knabenjahre kaum ein Wort gewechselt hatte, nicht leiden und sah in meiner Berufswahl ein bedauerliches Zeichen von Entartung, in meinem Unglück aber eine offensichtliche Strafe und Mahnung der Vorsehung.

Um mir eine Freude zu machen, hatte mein Vater es vorbereitet, dass ich zum Solospielen in einem Konzert des städtischen Musikvereins aufgefordert wurde. Aber ich konnte nicht, ich lehnte ab und zog mich tagelang in meine kleine Stube zurück, in der ich schon als Knabe gewohnt hatte. Besonders quälte michd asewigeGefragtwerdenu ndR edestehenmüssen[23], so dass ich gar nimmer ausging. Dabei ertappte ich mich dabei, dass ich aus dem Fenster dem Leben der Straße, den Schulkindern und vor allem den jungen Mädchen mit unglücklichem Neide nachsah.

Wie durfte ich denn hoffen, dachte ich, je wieder einem Mädchen Liebe zeigen zu können! Ich würde immer nebendraußen stehen, wie beim Tanzen, und zusehen müssen und den Mädchen nicht für voll gelten[24], und wenn je eine freundlich mit mir wäre, so würde es Mitleid sein! Ach, das Bemitleidetwerden hatte ich schon satt bis zum Ekel.

Unter diesen Umständen konnte meines Bleibens daheim nicht sein. Auch die Eltern litten unter meiner reizbaren Schwermut nicht wenig und redeten kaum dagegen, als ich mir die Erlaubnis erbat, gleich jetzt die längst geplante Reise anzutreten, die der Vater mir versprochen hatte. Es hat auch später noch mein Gebrechen mir zu schaffen gemacht und mir Wünsche und Hoffnungen zerstört, an denen mein Herz hing; aber so heiß und quälend habe ich meine Schwäche und Verunstaltung wohl nie mehr empfunden wie damals, wo der Anblick jedes gesunden jungen Mannes und jeder hübschen Frauengestalt mich demütigte und mir wehtat. Wie ich mich langsam an den Stock und das Hinken gewöhnt hatte, bis es mich kaum mehr störte, so musste ich mich mit den Jahren daran gewöhnen, meines Schadens ohne Bitterkeit bewusst zu bleiben und ihn mit Ergebung und Humor zu tragen.

Zum Glück konnte ich allein reisen und bedurfte keiner besonderen Wartung mehr; jede Begleitung wäre mir zuwider gewesen und hätte meine innere Heilung gestört. Mir ward schon leichter, als ich im Zuge saß und niemand mehr mich auffällig und mitleidig betrachtete. Ich fuhr ohne Pause Tag und Nacht, in einem wahren Fluchtgefühl, und atmete tief auf, als ich am zweiten Abend durch trübe Fenster spitze, hohe Berge erblickte. Mit dem Dunkelwerden erreichte ich die letzte Station, ging müde und froh durch dunkle Gassen eines Graubündners Städtchens[25] dem ersten Gasthause zu und schlief nach einem Becher tiefroten Weines mir in zehn Stunden die Reisemüdigkeit und schon auch einen guten Teil der mitgebrachten Bedrängnis vom Halse.

Am Morgen stieg ich in die kleine Bergbahn, die durch enge Täler an weißen, schäumenden Bächen hin bergeinwärts führte, und dann an einem kleinen einsamen Bahnhöflein in einen Wagen, und um Mittag war ich droben in einem der höchstgelegenen Dörfer des Landes.

Im einzigen kleinen Gasthaus des stillen, armen Dorfes wohnte ich nun, zeitweise als einziger Gast, bis in den Herbst hinein. Ich hatte im Sinn gehabt, hier eine kleine Weile auszuruhen und dann weiter durch die Schweiz zu reisen, ein Stück Welt und Fremde zu sehen. Es ging aber in jener Höhe ein Wind und wehte eine Luft voller herber Klarheit und Größe, die ich nimmer verlassen mochte. Die eine Seite des Hochtales war mit Tannenwald bewachsen, fast bis zur Höhe, die andere Lehne war felsig kahl. Hier brachte ich meine Tage zu, im sonnenbraunen Gestein oder an einem der kraftvollen wilden Bäche, deren Lied bei Nacht durchs ganze Dorf tönte. In den ersten Tagen genossich die Einsamkeit wie einen kühlen Heiltrank, niemand sah mir nach, niemand zeigte mir Neugierde oder Mitleid, ich war frei und allein wie ein Vogel in der Höhe und vergaß bald meinen Schmerz und mein kränkliches Neidgefühl. Zuweilen tat es mir leid, dass ich nicht weit in die Berge gehen, unbekannte Täler und Alpen besuchen, gefährliche Wege steigen konnte. Doch war mir im Grunde herrlich wohl, nach den Erlebnissen und Erregungen der vergangenen Monate umfing mich die Stille der Einsamkeit wie eine sichere Burg, ich fand die gestörte Seelenruhe wieder und lernte, mich in meine körperliche Schwäche, wenn nicht mit Heiterkeit, so doch mit Resignation finden.

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22

ins Zeug gehen – приняться за дело

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23

das ewige Gefragtwerden und Redestehenmüssen – постоянные вопросы и необходимость отвечать

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24

nicht für voll gelten – считаться неполноценным

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25

ein Graubündners Städtchen – городoк в кантоне Граубюнден