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Die Wochen dort oben sind beinahe die schönsten in meinem Leben gewesen. Ich atmete die reine, helle Luft, trank das eisige Wasser der Bäche, sah an den steilen Hängen die Ziegenherden grasen, von schwarzhaarigen, träumerisch stillen Hirten bewacht, hörte zuweilen Stürme durchs Tal gehen, sah Nebeln und Gewölk aus ungewohnter Nähe ins Gesicht. In Steinspalten beobachtete ich die kleine, zarte farbenkräftige Blumenwelt und die vielen herrlichen Moose, und an klaren Tagen stieg ich gern eine Stunde bergan, bis ich über die jenseitige Höhe hinweg die fernen, rein gezeichneten Spitzen hoher Berge mit blauen Schatten und selig leuchtenden, silbernen Schneefeldern sehen konnte. An einer Stelle des Fußpfades, wo von einer armen, kleinen Quelle her ihn ein dünnes Wassergerinnsel feucht erhielt, fand ich an jedem hellen Tag einen Schwarm von Hunderten kleiner blauer Schmetterlinge trinkend sitzen, die kaum vor meinen Schritten auswichen und mich, wenn ich sie aufstörte, mit einem winzigen, seidenzarten Flügelgesumme umtaumelten. Seit ich sie kannte, ging ich diesen Weg nur an sonnigen Tagen, und jedesmal war die dichte, blaue Schar da, und jedesmal war es ein Feiertag.

Besinne ich mich genauer, so war allerdings jene Zeit nicht ganz so vollkommen blau und sonnig und feiertäglich, wie sie mir im Gedächtnis steht. Es gab nicht nur Nebeltage und Regentage, sogar Schnee und Kälte, es gab auch in mir Unwetter und böse Tage.

Ich war das Alleinsein nicht gewohnt, und als das erste Ausruhen und Schwelgen vorüber war, sah mich zuweilen das Leid, dem ich entronnen, plötzlich wieder aus schrecklicher Nähe an. Manchen kalten Abend saß ich in meiner winzigen Stube, die Reisedecke auf den Knien, müde und wehrlos törichten Gedanken hingegeben. Alles was das junge Blut begehrt und hoft, Feste und tanzende Fröhlichkeit, Frauenliebe und Abenteuer, Triumph der Kraft und der Liebe, das lag drüben am anderen Ufer, für immer von mir abgetrennt und für immer unerreichbar. Sogar jene trotzig ausgelassene Zeit einer halb erzwungenen Lustigkeit, deren Ende mein Sturz im Schlitten gewesen war, erschien in meiner Erinnerung dann schön und paradiesisch gefärbt als ein verlorenes Land der Freude, deren Nachhall mir nur noch von ferne her mit verklingendem baccischem[26] Taumel herüberklang. Und wenn zuweilen nachts die Stürme gingen, wenn das kalte stetige Geräusch der stürzenden Gewässer vom leidenschafftlich wehklagenden Rauschen des zerwühlten Tannenwaldes übertönt wurde oder im Dachgebälk des gebrechlichen Hauses die tausend unerklärten Geräusche der schlaflosen Sommernacht laut wurden, dann lag ich in hoffnungslosen heißen Träumen von Leben und Liebessturm, wütend und Gott lästernd, und kam mir als ein ärmlicher Dichter und Träumer vor, dessen schönster Traum doch nur ein dünnes Seifenblasenschillern ist, während tausend andere rings in der Welt, ihrer Jugendkräft e froh, jubelnde Hände nach allen Kronen des Lebens ausstreckten.

Wie ich jedoch die heilige Schönheit der Berge und alles, was meine Sinne täglich genossen, nur durch einen Schleier zu mir herblicken und nur aus einer seltsamen Ferne zu mir reden fühlte, so trat auch zwischen mich und jenes oft so wild aufbrechende Leid ein Schleier und eine leise Fremdheit, und bald war es so weit, dass ich beides, den Glanz der Tage und den Jammer der Nächte, wie Stimmen von außen vernahm, denen ich mit unverletztem Herzen zuhören konnte. Ich sah und fühlte mich selbst als einen Himmel mit ziehendem Gewölk, als ein Feld voll kämpfender Scharen, und ob es Lust und Genuss oder Leid und Schwermut war, es tönte beides klarer und verständlicher, löste sich aus meiner Seele und trat mich von außen an, in Harmonien und Tonreihen, die ich wie im Schlafe vernahm und die ohne mein Wollen von mir Besitz ergriffen.

Es war in einer Abendstille bei der Heimkehr aus den Felsen, als ich das alles zum erstenmal deutlich empfand, und als ich daran grübelte und mir selber ein Rätsel war, fiel es mir unversehens ein, was das alles bedeute, und dass es die Wiederkehr jener fremden, entrückten Stunden sei, die ich in früheren Jahren ahnungsweise vorgekostet hatte. Und mit dieser Erinnerung kam jene herrliche Klarheit wieder, die fast gläserne Helligkeit und Durchsichtigkeit der Gefühle, deren jedes ohne Maske dastand und deren keines mehr Schmerz oder Glück hieß, sondern nur Kraft und Klang und Strom bedeutete. Aus dem Treiben, Schillern und Kämpfen meiner gesteigerten Empfindungen war Musik geworden.

Nun sah ich an meinen hellen Tagen die Sonne und den Wald, die braunen Felsen und die fernen silbernen Berge mit doppeltem Gefühl von Glück und Schönheit und Empfängnis, und ich fühlte in den dunklen Stunden mein krankes Herz mit doppelter Glut sich dehnen und empören, und ich unterschied nicht mehr Genuss und Weh, sondern eines war dem andern gleich, und beides tat weh, und beides war köstlich. Und während es mir innen wohl oder weh erging, stand meine Kraft doch in Ruhe darüber, schaute zu und erkannte das Helle und Dunkle als geschwisterlich zusammengehörend, das Leid und den Frieden als Takte und Kräfte und Teile derselben großen Musik.

Ich konnte diese Musik nicht aufschreiben, sie war mir selber noch fremd und ihre Grenzen mir unbekannt. Aber ich konnte sie hören, ich konnte die Welt in mir als Vollkommenheit empfinden. Und etwas konnte ich auch festhalten, einen kleinen Teil und Widerklang, verkleinert und übersetzt. Daran dachte ich und sog ich nun tagelang und fand, dass es mit zwei Geigen auszudrücken war, und fing an, wie ein junger Vogel das Fliegen wagt, in aller Unschuld, meine erste Sonate aufzuschreiben.

Als ich den ersten Satz eines Morgens in meiner Kammer auf der Geige spielte, fühlte ich wohl die Schwäche und Unfertigkeit und Unsicherheit, aber es lief mir doch jeder Takt wie ein Schauer übers Herz. Ich wusste nicht, ob diese Musik gut war; ich wusste aber, dass es meine eigene Musik war, in mir erlebt und geboren und nirgends vorher gehört.

Unten in der Gaststube saß, unbeweglich und weiß wie ein Eiszapfen, jahraus, jahrein der Vater des Wirts, ein Mann von mehr als achtzig Jahren, der nie ein Wort sprach und nur aus ruhigen Augen sorgsam um sich blickte. Es war ein Geheimnis, ob der feierlich Schweigende im Besitz übermenschlicher Weisheit und Seelenstille sei oder ob die Geisteskräfte ihn verlassen hatten. Zu diesem Greise stieg ich an jenem Morgen hinab, meine Geige unter dem Arm, denn ich hatte bemerkt, dass er meinem Spiel und jeder Musik immer mit Aufmerksamkeit zuhörte. Da ich ihn allein fand, stellte ich mich vor ihm auf, stimmte die Violine und spielte ihm meinen ersten Satz vor. Der uralte Mann hielt seine stillen Augen, deren Weißes gelblich und deren Lidränder rot waren, auf mich gerichtet und hörte zu, und wenn ich an jene Musik denke, so sehe ich auch den Alten wieder und sein regungslos steinernes Gesicht, aus dem die ruhigen Augen mich betrachteten. Als ich fertig war, nickte ich ihm zu, er blinzelte listig und schien alles zu begreifen, seine gelblichen Augen erwiderten meinen Blick, dann wandte er sich ab, ließ den Kopf ein wenig sinken und erlosch wieder zu seiner alten Starre.

Früh begann der Herbst in dieser Höhe, und als ich eines Morgens abreiste, lag dicker Nebel und fiel in staubzarten Tropfen sprühend ein kalter Regen. Ich nahm aber die Sonne der guten Tage und außer der dankbaren Erinnerung auch einen frohen Mut für meine nächsten Wege mit.

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26

baccisch – вакхический, необузданный (от имени римск.-греч. бога вина Бахуса или Вакха; лат. Ваcchus)