»Zugegeben.« Die Stimme des Camerlengo nahm an Schärfe zu. »Aber das ist es nicht, was mir die größten Sorgen bereitet. Niemand außerhalb des Vatikans wusste, dass der Papst mit Heparin behandelt wurde.«
Schweigen.
»Falls er eine Überdosis erhielt«, sagte Vittoria in die Stille, »würde sein Leichnam Spuren davon aufweisen.«
Olivetti wirbelte zu ihr herum. »Miss Vetra, für den Fall, dass Sie mich nicht verstanden haben - das Vatikanische Gesetz verbietet eine Autopsie des Papstes. Wir werden den Leichnam Seiner Heiligkeit nicht entweihen, indem wir ihn aufschneiden, nur weil ein Feind der Kirche eine beleidigende Behauptung aufstellt.«
Vittoria errötete beschämt. »Ich. ich wollte nicht andeuten.« Sie hatte nicht respektlos erscheinen wollen. »Bitte verzeihen Sie, aber ich wollte damit nicht andeuten, dass der verstorbene Papst exhumiert werden soll.« Sie zögerte. Robert hatte ihr in der Chigi-Kapelle etwas erzählt, das ihr nicht mehr aus dem Kopf gegangen war. Er hatte erwähnt, dass die Sarkophage der Päpste über der Erde blieben und nicht zuzementiert wurden - ein Atavismus, der auf die Zeit der Pharaonen zurückging, als man noch glaubte, einen Sarg zu versiegeln und in der Erde zu begraben würde bedeuten, die Seele des Verstorbenen einzusperren. Gravitation diente als Mörtel, und die Deckel der Sarkophage wogen oft Hunderte von Kilogramm. Rein technisch, so wurde Vittoria bewusst, wäre es durchaus möglich.
»Was für Spuren?«, fragte der Camerlengo unvermittelt.
Vittorias Herz begann vor Furcht wild zu klopften. »Eine Überdosis Heparin kann Blutungen aus der oralen Mucosa verursachen.«
»Orale was?«
»Der Gaumen des Opfers blutet. Nachdem der Tod eingetreten ist, gerinnt das Blut, und die Innenseite des Mundes verfärbt sich schwarz.« Vittoria hatte einmal ein Bild von zwei Orcas gesehen, die versehentlich zu hohe Dosen von Heparin erhalten hatten. Die Wale hatten leblos im Becken getrieben, die Mäuler weit offen und die Zungen schwarz wie Ruß.
Der Camerlengo antwortete nicht. Er wandte sich ab und starrte aus dem Fenster.
Rochers Stimme hatte allen Optimismus verloren »Monsignore, falls die Behauptung zutrifft, dass der Heilige Vater vergiftet wurde.«
»Sie trifft nicht zu«, erklärte Olivetti kategorisch. »Das Betreten der Gemächer des Papstes ist keinem Außenstehenden erlaubt.«
»Falls diese Behauptung zutrifft«, beharrte Rocher, »und falls unser Heiliger Vater vergiftet wurde, hat das weitreichende Konsequenzen für unsere Suche nach diesem Antimateriebehälter. Der vorgebliche Mord hätte zur Folge, dass der Feind den Vatikan sehr viel tiefer infiltriert hat, als wir bisher angenommen haben. Die weißen Zonen abzusuchen würde nicht mehr ausreichen. Falls wir in so starkem Ausmaß kompromittiert sind, werden wir den Behälter möglicherweise nicht rechtzeitig finden.«
Olivetti musterte seinen Hauptmann mit einem kalten Blick. »Hauptmann Rocher, ich werde Ihnen sagen, was geschehen wird.«
»Nein!« Der Camerlengo wandte sich überraschend wieder um. »Ich werde Ihnen sagen, was geschehen wird, Oberst Olivetti.« Er blickte dem Kommandanten der Schweizergarde direkt in die Augen. »Das alles ist nun weit genug gegangen. In zwanzig Minuten werde ich eine Entscheidung treffen, ob wir das Konklave abbrechen und die Vatikanstadt evakuieren oder nicht. Meine Entscheidung wird endgültig sein. Haben Sie das verstanden, Oberst?«
Olivetti erwiderte den Blick des Camerlengos, ohne mit der Wimper zu zucken und ohne zu antworten.
Der Camerlengo sprach jetzt mit neuer Energie, als hätte er eine verborgene Kraftreserve angezapft. »Hauptmann Rocher, Sie werden die Suche in den weißen Bereichen zu Ende führen und mir unverzüglich Bericht erstatten, sobald Sie damit fertig sind.«
Rocher warf Olivetti einen nervösen Seitenblick zu und nickte.
Der Camerlengo wandte sich an zwei Gardisten. »Sie beide! Ich will diesen Reporter, diesen Günther Glick, sofort in diesem Büro! Falls die Illuminati mit ihm in Verbindung gestanden haben, kann er uns vielleicht helfen. Gehen Sie.«
Die beiden Schweizergardisten eilten los.
Der Camerlengo wandte sich an die restlichen Gardisten. »Meine Herren, ich werde nicht zulassen, dass an diesem Abend noch mehr Menschen ihr Leben verlieren. Bis zweiundzwanzig Uhr werden Sie die beiden noch lebenden entführten Kardinale finden und das Ungeheuer fangen, das für diese Morde verantwortlich ist. Habe ich mich deutlich ausgedrückt?«
»Aber Monsignore!«, entgegnete Olivetti. »Wir haben nicht die geringste Vorstellung, wo wir.«
»Mr. Langdon arbeitet daran. Er scheint ein kompetenter Mann zu sein. Ich habe vollstes Vertrauen in ihn.«
Mit diesen Worten wandte der Camerlengo sich um und ging zur Tür. In seinen Schritten lag neuer Elan. Auf dem Weg nach draußen deutete er auf drei Gardisten. »Sie drei - Sie kommen mit mir.«
Die Gardisten gehorchten.
In der Tür blieb der Camerlengo noch einmal stehen. Er wandte sich zu Vittoria um. »Signorina Vetra, Sie auch. Bitte kommen Sie mit mir.«
Vittoria zögerte. »Wohin gehen wir?«
»Zu einem alten Freund.« Der Camerlengo verließ den Raum.
Kapitel 82.
Sylvie Baudeloque war hungrig und wollte nach Hause. Zu ihrer Bestürzung hatte Maximilian Kohler seinen Abstecher in die Krankenstation von CERN wieder einmal überlebt; er hatte bereits angerufen und verlangt - nicht gebeten, sondern verlangt! -, dass Sylvie am Abend länger bliebe. Ohne jede Erklärung.
Im Lauf der Jahre hatte Sylvie sich an die bizarren Stimmungsumschwünge und das exzentrische Verhalten ihres Chefs gewöhnt. Sie achtete gar nicht mehr darauf. Weder auf seine versteckten Anspielungen noch auf seine entnervende Angewohnheit, sämtliche Treffen mit der in seinen Rollstuhl eingebauten Videokamera zu filmen. Sie hoffte im Stillen, dass er sich eines Tages während eines seiner wöchentlichen Besuche auf dem Pistolenschießstand CERNs umbringen würde, doch offensichtlich war er ein guter Schütze.
Sie saß allein in ihrem Büro am Schreibtisch, und ihr Magen knurrte. Kohler war weder aufgetaucht, noch hatte er ihr weitere Arbeiten für den Abend aufgetragen. Zur Hölle mit dir, wenn du glaubst, ich bleibe hier sitzen und langweile mich zu Tode... das heißt, wenn ich nicht vorher verhungere. Sie schrieb Kohler eine Notiz und machte sich auf den Weg zur Mitarbeiterkantine, um einen Imbiss einzunehmen.
Sie kam nicht so weit.
Als sie an den »Suites de Poisir« vorbeikam, einem langen Gang voller Freizeiträume, bemerkte sie, dass die Fernsehzimmer gedrängt voll waren mit Mitarbeitern, die offensichtlich sogar ihr Abendessen stehen gelassen hatten, um die Nachrichten zu verfolgen. Irgendetwas Großes war im Gange. Sylvie betrat ein Fernsehzimmer voller »Byte-Heads« -wilder junger Computerprogrammierer. Als sie die Schlagzeile
auf dem Bildschirm sah, stieß sie einen leisen erschrockenen Schrei aus.
TERROR GEGEN DEN VATIKAN
Sylvie verfolgte den Bericht. Sie traute ihren Augen nicht. Irgendeine uralte Geheimbruderschaft brachte Kardinale um? Was wollte sie damit beweisen? Ihren Hass? Ihre Überlegenheit? Ihre Ignoranz?
Und doch - die Stimmung in diesem Zimmer schien alles andere als ernst.
Zwei junge Techniker rannten vorbei. Sie schwenkten T-Shirts mit einem aufgedruckten Bild von Bill Gates und dem Spruch darunter: AND THE GEEK SHALL INHERIT THE EARTH!3
Einer der beiden rief: »Illuminati! Ich hab dir gleich gesagt, dass es diese Typen gibt!«
»Unglaublich! Und ich dachte immer, es sei nur ein Spiel.«
»Sie haben den Papst umgebracht, Mann! Den Papst!«
»Ich frage mich, wie viele Punkte man dafür kriegt?«