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Von diesem» Geschwindigkeitsproblem «bleibt die Psychologie verschont. Psychotherapeuten doktern

immer noch ratlos mit dem verstaubten Instrumentarium der frühen industriellen Revolution an den

Neurosen des Informationszeitalters herum.»Es gibt seit hundert Jahren Psychotherapie, und trotzdem

geht's mit der Welt bergab«, konstatieren der Psychoanalytiker James Hillman und der Journalist Michael

Ventura zynisch in ihrem Buch.[5] Mit einer Gräueltat und einem Völkermord nach dem anderen rückt die

Zeitgeschichte die Ohnmacht des Menschen gegenüber der dunklen Seite seiner Seele ins Rampenlicht.

Die Psychowissenschaften erzeugen zwar mit hochtrabenden Begriffen wie» kognitive

Verhaltenstherapie «oder» systematische Desensibilisierung «die Illusion von Tiefgründigkeit und

Kennerschaft. Tatsache ist jedoch, dass selbst der Ursprung einer schlichten Schlangenphobie weiterhin

ein ungelöstes Rätsel bleibt. Wenn Ihnen ein Psychotherapeut irgendetwas anderes sagt, hat er im

günstigsten Falle die Fachliteratur nicht studiert. Es gibt nachweislich keine einzige funktionierende

«Beeinflussungstechnik«, mit der man systematisch auch nur einen Raucher in einen Nichtraucher

verwandeln könnte. Gerechterweise bleibt auch die Werbung mit ihren viel gerühmten psychologischen

Suggestivmethoden beim» Umprogrammieren «von Nichtrauchern in Raucher genauso ergebnislos. Die

Psychologie zeichnet sich durch eine peinlich lange Folge von» Theorien «aus, die sich im Nachhinein

viel zu oft als flüchtige Modeerscheinungen entpuppten und mangels Erklärungskraft in Vergessenheit

gerieten.

Hauptinspiration zu diesem Buch war jedoch die über Jahre der wissenschaftsjournalistischen

Tätigkeit gewachsene, schmerzhafte Erkenntnis, dass unter dem Deckmäntelchen des Begriffes

«Psychologie «im großen Stil Beihilfe zum Selbstbetrug geleistet wird. Anstatt den heroischen Kampf

gegen das Nichtwissen zu unterstützen, schütten Therapeuten, Psychologen und andere» Seelenexperten«

immer wieder ganze Füllhörner von Mythen und Psychoirrtümern über die Menschen aus. In den

Naturwissenschaften werden Mythen, Irrtümer und falsche Theorien früher oder später durch empirische

Erkennmisse ausgemerzt. Spätestens als die Weltraumsonden die ersten plastischen Bilder von der

Erdkugel übermittelten, war der Glaube an die Scheibenförmigkeit unseres Planeten in den Köpfen der

letzten (nicht verrückten) Gläubigen gelöscht. Die Einsicht, dass auch die vermeintliche» Krone der

Schöpfung «von tierartigen Vorfahren abstammt, hat sich mit dem Siegeszug der Evolutionslehre

erfolgreich gegen alle konkurrierenden Erklärungsmodelle durchgesetzt.

Psychologische Mythen sind dagegen auch durch besseres Wissen nicht totzukriegen.»Theorien der

menschlichen Natur sterben niemals völlig aus; sie kommen nur aus der Mode«, macht mein

amerikanischer Kollege John Horgan seiner Enttäuschung Luft.»Oftmals werden alte Ideen einfach in

schmackhafterer Form neu verpackt. «Es ist eine beklagenswerte, aber auch anspornende Tatsache, dass

die Psychologie (noch) viel zu wenig über den Menschen weiß, um die Probleme lösen zu können, die

der Mensch leidenschaftlich gerne gelöst hätte. Das psychologische Wissen —»die Wahrheit über uns

selbst«— kann der Unwissenheit nur in mühevoller Kleinarbeit abgetrotzt werden. Aber die akademische

Psychologie hat bei geschätzten 17.000 empirischen Studien pro Jahr das Rätsel Seele noch nicht einmal

an der Oberfläche richtig angekratzt. Immerhin hat die universitäre Seelenforschung trotz ihrer

bedauernswert fragmentarischen Ergebnisse einigen der bedeutendsten Mythen dieser Epoche die

Grundlagen entzogen.

Doch wenn man einem Mythos den Kopf abhackt, wachsen an anderer Stelle zwei nach. In

jahrelanger, mühsamer Kleinarbeit hat die akademische Seelenforschung gerade erst die wichtigsten

Grundannahmen der Psychoanalyse von Sigmund Freud widerlegt, da schießen plötzlich Methoden wie

das» Eye Movement Desensitization and Reprocessing«(EMDR) oder das» Neurolinguistische

Programmieren «aus dem Boden, deren Verankerung in der Realität sich bestenfalls mit der

Wünschelrute aufspüren lässt.

Aber selbst die freudsche Psychoanalyse — die» Urmutter aller Psychotherapien«— übersteht das

Absägen ihrer Pfeiler bislang unbeschadet. Der Wiener Seelenpionier ist genauso untot wie Graf Dracula.

Sigmund Freud, resümiert der britische Literaturhistoriker Richard Webster,»war Schöpfer einer

komplexen Pseudowissenschaft, die als eine der größten Torheiten der westlichen Zivilisation erkannt

werden sollte.«[6] Schon vor zwei Jahrzehnten hatte der britische Nobelpreisträger Peter Medawar die

Psychoanalyse zur» horrendesten Bauernfängerei «des Jahrhunderts erklärt und ihr baldiges

Verschwinden vorausgesagt — ein Irrtum, wie sich herausgestellt hat. Während der Marxismus spätestens

mit dem Mauerfall und dem Niedergang der Sowjetunion augenfällig im Schrotthaufen der

Geistesgeschichte versank, geht die Tiefenpsychologie scheinbar gestärkt aus ihrer Demontage durch die

Empiriker hervor.

Obgleich Freuds Grundannahmen wie der Glaube an die Verdrängung, an das Unbewusste und an die

Bedeutung der frühen Kindheit einer kritischen Prüfung nicht standhalten, machen immer noch Millionen

Menschen einen klassischen» Couchtrip «durch. Besonders bei geisteswissenschaftlich orientierten

Intellektuellen und im Feuilleton gilt die Psychoanalyse immer noch als eine Insignie der höheren

Denkungsart, und die Krankenkassen blättern für eine Behandlung beim Analytiker bis zum Abwinken

Mittel der Solidargemeinschaft hin. Freuds Anhänger huldigen ihm als Genie, dessen Einsichten, wenn

auch empirisch nicht belegbar, intuitiv unmittelbar plausibel sind. Bei dieser defensiven Haltung spielt

wahrscheinlich auch eine strukturelle Eigenart der psychologischen Forschung mit, auf welche die

Psychologin Abele-Brehm hinweist:»Psychologie ist erlebnisnah, und jeder Mensch hat einen

>psychologischen Hausverstand<, der mit den Forschungsbefunden konkurriert.«

Der Hauptgrund für das Beharrungsvermögen der Analyse und der anderen Psycho-Irrtümer besteht

jedoch darin, dass sie tief sitzende Bedürfnisse der Gläubigen befriedigen. Für den, der die Hand voll

Interpretationsregeln begriffen hat, ist die Psychoanalyse ein» Stein der Weisen«, eine genialische

Offenbarung, die bereits dem Halbgebildeten einen visionären Einblick in die geheime Mechanik des

Lebens gewährt. Das ist eben die ewige Verlockung der Scholastik: Für jede Frage gibt es eine fundierte

Antwort, die schon seit Jahrzehnten in den» heiligen Schriften «zu eruieren ist. Den Zauberstab der

Deutung, der tiefe und verborgene Geheimnisse enthüllt, kann sich auch der interessierte Laie im

Schnellverfahren zu Eigen machen. Wer erst einmal den hermeneutischen Bogen heraushat, wähnt sich

im Besitz des» Röntgenblickes«, mit dem er alle Fassaden durchdringt und dem Unbewussten auf seine

Schliche kommt. Aus diesen Gründen werden» Psychologen«— faktisch fast immer Analytiker — so gerne

als» Experten «in Talkshows eingeladen. Mit ihren rhetorischen Taschenspielertricks befriedigen sie den

Profilierungsdrang des Neunmalklugen, der sich mit ein paar eingeübten Kniffen über die

Ahnungslosigkeit der» Uneingeweihten «erhebt, und der mit ein paar flott zurechtgelegten Deutungen alle

Welträtsel nach dem Instant-Prinzip» knackt«.

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5

Hillman, James/Ventura, Michaeclass="underline" We've had a hundred years of psychotherapy and the world's getting worse. Verlag Harper, San Francisco

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6

«Kathedrale auf Treibsand«. In: Der Spiegel, 25/1998.