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In dieser Traumwelt lebte er mehr als in der wirklichen. Die wirkliche Welt: Schulsaal, Klosterhof, Bibliothek, Schlafsaal und Kapelle, war nur Oberfläche, nur eine dünne zitternde Haut über der traumgefüllten, überwirklichen Bilderwelt. Ein Nichts war genug, um in diese dünne Haut ein Loch zu stoßen: etwas Ahnungsvolles im Klang eines griechischen Wortes mitten in der nüchternen Lektion, eine Welle Duft aus der Kräutertasche des botanisierenden Paters Anselm, der Blick auf eine steinerne Blattranke, die oben aus der Säule eines Fensterbogens quoll – solche kleine Anreize genügten schon, um die Haut der Wirklichkeit zu durchstoßen und hinter der friedlich dürren Wirklichkeit die tosenden Abgründe, Ströme und Milchstraßen jener Seelenbilderwelt zu entfesseln. Ein lateinisches Initial wurde zum duftenden Gesicht der Mutter, ein langgezogener Ton im Ave[44] zum Paradiestor, ein griechischer Buchstabe zum rennenden Pferd, zur bäumenden Schlange, still wälzte sie sich unter Blumen davon, und schon stand an ihrer Stelle wieder die starre Seite der Grammatik.

Selten sprach er davon, nur wenige Male gab er Narziss eine Andeutung von dieser Traumwelt.

»Ich glaube«, sagte er einmal, »dass ein Blumenblatt oder ein kleiner Wurm auf dem Wege viel mehr sagt und enthält als alle Bücher der ganzen Bibliothek. Mit Buchstaben und mit Worten kann man nichts sagen. Manchmal schreibe ich irgendeinen griechischen Buchstaben, ein Theta oder Omega[45], und indem ich die Feder ein klein wenig drehe, schwänzelt der Buchstabe und ist ein Fisch und erinnert in einer Sekunde an alle Bäche und Ströme der Welt, an alles Kühle und Feuchte, an den Ozean Homers und an das Wasser, auf dem Petrus[46] wandelte, oder der Buchstabe wird ein Vogel, stellt den Schwanz, sträubt die Federn, bläst sich auf, lacht, fliegt davon. – Nun, Narziss, du hältst wohl nicht viel von solchen Buchstaben? Aber ich sage dir: mit ihnen schrieb Gott die Welt.«

»Ich halte viel von ihnen«, sagte Narziss traurig. »Es sind Zauberbuchstaben, man kann alle Dämonen mit ihnen beschwören. Nur freilich zum Betreiben der Wissenschaften sind sie ungeeignet. Der Geist liebt das Feste, Gestaltete, er will sich auf seine Zeichen verlassen können, er liebt das Seiende, nicht das Werdende, das Wirkliche und nicht das Mögliche. Er duldet nicht, dass ein Omega eine Schlange oder ein Vogel werde. In der Natur kann der Geist nicht leben, nur gegen sie, nur als ihr Gegenspiel. Glaubst du mir jetzt, Goldmund, dass du nie ein Gelehrter sein wirst?«

O ja, Goldmund glaubte es längst, er war damit einverstanden.

»Ich bin gar nicht mehr in das Streben nach eurem Geist verbissen«, sagte er, halb lachend. »Es geht mir mit dem Geist und mit der Gelehrsamkeit ähnlich, wie es mir mit meinem Vater gegangen ist: ich glaubte ihn sehr zu lieben und ihm ähnlich zu sein, ich schwor auf alles, was er sagte. Aber kaum war meine Mutter wieder da, so wusste ich erst wieder, was Liebe ist, und neben ihrem Bild war das des Vaters plötzlich klein und unfroh und beinah widerwärtig geworden. Und jetzt neige ich dazu, alles Geistige als väterlich, als unmütterlich und mutterfeindlich anzusehen und es ein wenig gering zu achten.«

Er sprach scherzend, doch gelang es ihm nicht, seines Freundes trauriges Gesicht heiter zu machen. Narziss sah ihn schweigend an, sein Blick war wie eine Liebkosung. Dann sagte er: »Ich verstehe dich wohl. Wir brauchen jetzt nicht mehr zu streiten; du bist erwacht, und du hast ja jetzt auch den Unterschied zwischen dir und mir erkannt, den Unterschied zwischen mütterlichen und väterlichen Herkünften, zwischen Seele und Geist. Und nun wirst du ja wohl bald auch das noch erkennen, dass dein Leben im Kloster und dein Streben nach einem mönchischen Leben ein Irrtum war, eine Erfindung deines Vaters, der damit das Andenken deiner Mutter entsündigen oder auch nur sich an ihr rächen wollte. Oder glaubst du noch immer, dass es deine Bestimmung sei, dein ganzes Leben im Kloster zu bleiben?«

Nachdenklich betrachtete Goldmund seines Freundes Hände, diese vornehmen, ebenso strengen wie zarten, mageren und weißen Hände. Niemand konnte bezweifeln, dass dies Asketen- und Gelehrtenhände seien.

»Ich weiß nicht«, sagte er mit der singenden, etwas zögernden, lang auf jedem Laut verweilenden Stimme, die er seit einiger Zeit bekommen hatte. »Ich weiß es wirklich nicht. Du urteilst etwas hart über meinen Vater. Er hat es nicht leicht gehabt. Aber vielleicht hast du auch hierin recht. Ich bin seit mehr als drei Jahren hier in der Klosterschule, und er hat mich noch nie besucht. Er hoft, dass ich für immer hierbleiben werde. Vielleicht wäre es das beste, ich habe es ja auch selber immer gewünscht. Aber heut weiß ich nicht mehr, was ich eigentlich will und wünsche. Früher war alles einfach, so einfach wie die Buchstaben im Lesebuch. Jetzt ist nichts mehr einfach, nicht einmal mehr die Buchstaben. Alles hat viele Bedeutungen und Gesichter bekommen. Ich weiß nicht, was aus mir werden soll, ich kann jetzt nicht an solche Sachen denken.«

»Das sollst du auch nicht«, meinte Narziss. »Es wird sich schon zeigen, wohin dein Weg führt. Er hat begonnen, dich zu deiner Mutter zurückzuführen und wird dich ihr noch näherbringen. Was aber deinen Vater betrift, so urteile ich über ihn nicht zu hart. Würdest du denn zu ihm zurückkehren wollen?«

»Nein, Narziss, gewiss nicht. Sonst würde ich es tun, sobald ich mit der Schule fertig bin, oder schon jetzt. Denn da ich doch kein Gelehrter werde, habe ich eigentlich Latein, Griechisch und Mathematik genug gelernt. Nein, ich will nicht zum Vater zurück…«

Nachdenklich sah er vor sich hin, und plötzlich rief er: »Aber wie machst du das nur, dass du mir immer wieder Worte sagst oder Fragen stellst, die in mich hineinleuchten und mich mir selbst klarmachen? Auch jetzt wieder war es nur deine Frage, ob ich denn zu meinem Vater würde zurückkehren wollen, die mir plötzlich gezeigt hat, dass ich es nicht will. Wie machst du das? Du scheinst alles zu wissen. Du hast mir manche Worte über dich und mich gesagt, die ich im Augenblick des Hörens gar nicht recht begriff und die mir nachher so wichtig geworden sind! Du warst es, der meine Herkunft eine mütterliche nannte, und du hast entdeckt, dass ich unter einem Bann stand und meine Kindheit vergessen hatte! Woher kennst du die Menschen so gut? Kann ich das nicht auch lernen?« Narziss schüttelte lächelnd den Kopf.

»Nein, mein Lieber, du kannst es nicht. Es gibt Menschen, die viel lernen können, aber du gehörst nicht zu ihnen. Du wirst nie ein Lerner sein. Wozu denn auch? Du hast das nicht nötig. Du hast andere Gaben. Du hast mehr Gaben als ich, du bist reicher als ich und bist auch schwächer, du wirst einen schöneren und schwereren Weg haben als ich. Manchmal wolltest du mich nicht verstehen, oft hast du dich gesträubt wie ein Füllen, es war nicht immer leicht, und oft habe ich dir auch weh tun müssen. Ich musste dich erwecken, du schliefst ja. Auch dass ich dich an deine Mutter erinnerte, hat zuerst weh getan, sehr weh, man fand dich wie einen Toten im Kreuzgang liegen. Es musste sein. – Nein, streichle mein Haar nicht! Nein, lass es! Ich kann es nicht leiden.«

»Und lernen kann ich also nichts? Ich werde immer dumm und ein Kind bleiben?«

»Es werden andere da sein, von denen du lernst. Was du von mir lernen konntest, du Kind, damit sind wir zu Ende.«

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44

ein langgezogener Ton im Ave – протяжные звуки в Аве Мария

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45

Theta, Omega – буквы греческого алфавита фита и омега

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46

Petrus – Петр, один из апостолов в Новом завете, первым провозгласивший Иисуса мессией