Выбрать главу

Großen Raum nehmen die Erinnerungen an die Verheerungen ein, die Armenien als Spielball zwischen den Großmächten Persien und Türkei erlitten hat; der russischen Eroberung Erivans[261] durch General Paskevič hingegen wird nur knapp die Reverenz erwiesen. Die Verbindung zu Russland wird nicht auf der Ebene der Kultur, sondern der militärischen Eroberung hergestellt[262].

Nicht die Gemeinsamkeiten zwischen Russland und Armenien, die Brjusov dem Russland angegliederten nordostlichen Zweig der armenischen Kultur konzediert, bilden also den Fokusvon Belyjs Wahrnehmung, sondern die Erinnerung an die kulturelle Vergangenheit Armeniens. In Eèmiadzin mit seiner Kathedrale, deren Ausmaße ihn an die Kathedrale in Cambridge erinnem und in dem Museum, wo ihm dergelehrte Bibliothekar Senekerim Ter-Akopjan die uralten kostbar ausgeführten Handschriften zeigt, wird ihm das Zusammenspiel heidnischer, judäischer und christlicher Elemente für die Formierung derarmenischen Kultur deutlich vor Augen geführt[263]. Neben Ter-Akopojan wird aberauch der Ingenieur Sirmazanjan genannt, der Erbauer des Staudamms in Ajger-Lič[264], des Weiteren ein Kapitän auf dem Sevan-See sowie der Maler Saijan, Belyjs Begleiter[265]. Belyj entledigt sich hier seines sozialen Auftrags.

Sein Synthesestreben konzentriert sich weniger wie bei Brjusov auf die Vermittlung der armenischen Kultur zwischen Asien und Europa, als vielmehr auf die Verschmelzung der Elemente Natur und Kultur, die er in der Landschaft entdeckt. In der Landschaft Armeniens ofifenbaren sich für Belyj die Schicksale des Landes. Das wird in der Beschreibung des Ararats, des wichtigsten Natur— und Kulturzeichens der Armenier sichtbar:

To — Арарат.

Смотришь, — кажется: вылезло что-то огромное, все переросшее — до ненормальности вдруг отчеканясь главою своей; <…> и растет впечатление, что голова, отделившись от тела, является белой планетой, которой судьба — обвалиться, иль в небо уйти навсегда, унося времена патриархов: не бред ли: в двадцатом столетии увидеть подножье ковчега, летавшего где-то здесь, в уровнях воздуха; и дико вспомнить легенду армян, будто рай насажден был здесь именно <…>[266]

Diese Urszene der Menschheitsgeschichte erscheint ihm symboltrachtig auch für die Zukunft:

Будет то время, когда станет братским объятьем сплетение рук араратских, откуда — восход в поднебесные выси, куда ушел конус, коли он… не рухнет до этого; он — разрушается; землетрясение сороковых годов прошлого века свалило под глетчером бок великана на церковь Иакова и на поселок, — в места, куда Ной, опустившися, стал разводить виноградники послепотопные[267].

Belyjs Armenienbericht wurde 1928 im Heft 8 der Zeitschrift «Krasnaja Nov’» veröffentlicht, dann erst wieder vollständig im Jahre 1985 in Erevan[268].

Osip Mandel’štam: «Putešestvie v Armeniju»

Mandel’štams Beschäftigung mit Armenien ist uns vor allem in drei Textsorten überliefert: im Gedichtzyklus «Armenija» (1930), dem Notizbuch zur Armenien-Reise «Zapisnye knižki 1931–1932» sowie dem eigentlichen Reisetext «Putešestvie v Armeniju» (1931/1933)[269]. Mandel’štam besuchte Armenien vom Mai bis November 1930. Seit 1928, als eine Verleumdungs — und Hetzkampagne gegen den Dichter entfesselt worden war, träumte er von dieser Reise, die ihm schließlich durch Fürsprache Nikolaj Bucharins genehmigt wurde.

Ähnlich wie bei Belyj ist die Reise als Flucht aus der bedrückenden Moskauer Atmosphäre zu verstehen, was sich in den Armenien-Texten widerspiegeln und deren Erzählperspektive bestimmen wird.

Aber Armenien war — und darin Belyjs Georgien-lmaginationen verwandt — nicht beliebiger Fluchtort, sondern kultureller Sehnsuchts-ort, der dem symbolistisch-akmeistischen Synthesedenken reichliche Nahrung bot. Beide Dichter verbanden mit ihrer Reise in den Kaukasus zugleich die Suche nach den eigenen poetischen Wurzeln: Während Belyj in Georgien die Kolchis, die mythologische Landschaft seiner symbolistischen Argonauten-Phase zu entdecken glaubte, fand Mandel’štam — in dessen Dichtung ebenfalls georgische Motive zu finden sind[270] — in Armenien zu den Wurzeln seiner jüdischen Kultur, aber eben in ihrer Verquickung mit der klassischen Antike. Der Mandel’štam Übersetzer und — Spezialist Ralph Dutli weist darauf hin, dass Mandel’štam bereits in seiner «Četvertaja proza» von 1929/1930 die armenische Erde als die jüngere Schwester der judäischen bezeichnete[271]. Auch der nach der Reise entstandene Gedichtzyklus bezeugt, dass Armenien seine poetische Phantasie beschäftigt hat.

Der Europäer Mandel’štam, der im mittelmeerischen Raum das Zentrum der europäischen Kultur sieht, betrachtet immer auch die zahlreichen Fäden und Verästelungen mit der «Weltkultur», aus der die europäische Kultur ihre besondere Qualität gewinnt.

Laut Nadežda Mandel’štam schloss er die Krim und den Kaukasus, insbesondere Armenien, durch ihre Verbindung mit dem Schwarzen Meer in diesen europäischen Kulturraum ein:

Средиземноморье было для него священной землёй, где началась история, которая путём преемственности дала христианскую культуру Европы. (…) В сферу Средиземноморья он включал Крым и Закавказье. (…) Древние связи Крыма и Закавказья, особенно Армении, с Грецией и Римом казались ему залогом общности с мировой, вернее, европейской культурой. (…)[272]

So wird ihm die Erde Armeniens, mit dem Berg Ararat, der bereits im ersten Buch Mose 8.4 als biblisches Land genannt wird, zum «Lehrbuch derersten Menschen», wie es in einem Gedicht des Zyklus heißt. Mandel’štam verortet Armenien in seiner geokulturellen Landkarte «на окрайне света» (4. Gedicht), wo es seinen Platz als «östlicher Vorposten jüdisch-christlicher, europäisch-abendländischer Kultur»[273] behauptet.

Der heilige Berg Ararat faszinierte auch andere russische reisende Literaten. In der symbolischen Ausdeutung des Ararat bei den Dichtem der Moderne findet man Puškins Staunen über den biblischen Berg wieder («Putešestvie v Azrum»), zugleich aber weiterführende kulturelle Reminiszenzen: Brjusov besingt den «старый Арарат» als Monument der Freiheit: «В огромной шапке Мономаха, / Как властелин окрестных гор, / Ты внёсся от земного праха / В свободный голубой простор»[274]. Belyj sah in ihm den Patriarchen, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft steingeworden seien[275]. Mandel’štam versieht den Ararat mit verschiedenen metaphorischen Bestimmungen, so z. В.: «Весь воздух выпила огромная гора»[276], «дорожный шатёр»[277].

Es ist schwer, in Mandel’štams Armeniengedichten ein geschlossenes Bild des Landes und seiner Kultur auszumachen. Zu den wichtigen Versatzstücken, die das poetische Gebäude namens Armenien errichten, gehören Motive der armenischen Volkspoesie, wie die Rose, die allerdings ihres traditionellen Partners der Nachtigall beraubt ist: «Ты розу Гафиса колышешь»[278] beginnt der Gedichtzyklus und verweist damit auf den starken Einfluss der persischen Tradition auf das Armenische. Zugleich wird das Eigenständige und Widerständige der armenischen Poesie betont:

Закутав рот, как влажную розу, / Держа в руках осьмигранные соты, / Всё утро дней на окрайне мира / Ты простояла, глотая слезу. // И отвернулась со стыдом и скорбью / От огородов богатых востока; / И вот лежишь на москательном ложе / И с тебя снимают посмертную маску[279].

Doch statt der romantischen Liebesbande zwischen der Rose und der Nachtigall, die die Volkspoesie durchzieht, lesen wir im VIII. Gedicht: «Холодно розе в снегу: / На Севане снег в три аршина…»[280] Die zarte Rose muss sich nunmehr in eisigen Gefilden behaupten. Im ständigen Kampf der Mächte wurde Armenien zerrieben. Es ist ein Land, das standig in höchster Gefahr schwebt.

Ein weiteres wichtiges Mosaik seines Armenien-Bildes bildet die armenische Sprache, besonders das Altarmenische (Grapar), das Mandel’štam (erfolglos, wie er selbst erklärt[281]) zu erlernen versuchte. Die fremde Sprache ist ihm Herausforderung: «Дикая кошка — армянская речь — / Мучит меня и царапает ухо»[282], zugleich symbolisiert sie jene unverfälschte Kultur, die sich eben durch ihre unverfügbare Sprache den politischen Zumutungen der Zeit entzieht.

Die poetische Spannung des gesamten Reisetextes «Putešestvie v Armeniju» resultiert aus der Gegenüberstellung des ungeliebten Moskaus derfinsteren Spießerfamilien («суровые семьи обывателей») mit dem lichten Armenien, «где черепа людей одинаково прекрасны»[283]. Nur drei von acht Kapiteln haben Armenien zum Schauplatz[284]. Der Akmeist verteidigt sein Konzept der kulturellen Autonomie und einer lebendigen häusliche Kultur, in das das transkauskasische Armenien genauso gehört wie das weltläufige, europäische Petersburg — nicht aber das «buddhahafte Moskau»[285].

Die überraschende und übergangslose Hinwendung zur französischen Malerei in Moskau (Kapitel «Francuzy») in einem Text über seine Armenien-Reise erklärt sich aus einer Vorstellung, die die europäische Kultur als ein geistiges Kontinuum denkt und nicht als einen abgeschlos-senen Raum. Im «buddhahaften Moskau» sucht er die Spuren, die von europäischer Kultur zeugen und verbindet sie kraft seiner poetischen Assoziation zu jenem Gewebe, dessen Struktur nicht so leicht zu durchschauen ist. Die Fäden reichen von den französischen Impressionisten über den Biologen Boris S. Kuzin, den er in Armenien und später in Moskau trifft und der ihm nicht nur die Lehren Lamarcks und Linnés nahe bringt[286], sondern auch die deutsche Literatur. Kuzin ist das Gedicht «К nemeckoj reči» (1932) gewidmet. Die vielfältigen kulturellen Assoziationen und Überschneidungen, die den Armenien-Text durchziehen, bedürfen einer differenzierten Erforschung[287], an dieser Stelle kann lediglich auf das Verfahren der omamentalen Verflechtungen hingewiesen werden, mit dem der Dichter die unterschiedlichen geographischen Räume überzieht, wodurch sich über die augenscheinlich unterschiedlichen nationalen Physiognomien ein einheitliches geistig-kulturelles Gewebe legt, das die europäische Kultur für ihn darstellt. Insofern vermag er auch dem «buddhahaften Moskau» seine europäischen Seiten abzutrotzen.

вернуться

261

Belyj verwendet die alte Schreibweise Ереван, die 1936 durch Ереван ersetzt wurde.

вернуться

262

Гончар. S. 22–23.

вернуться

263

Ebenda S. 47–49.

вернуться

264

Ebenda S. 56–57.

вернуться

265

Ebenda S. 31.

вернуться

266

Гончар. S. 19.

вернуться

267

Гончар. С.21.

вернуться

268

Zur Veröffentlichungsgeschichte vgl. Sippl C. Reisetexte der russischen Moderne. S. 35.

вернуться

269

Der Gedichtzyklus erschien erstmalig // Новый мир. 1931. № 3; der Reisetext // Звезда. 1933. № 5, die Tagebuchnotizen wurden teilweise // Вопросы литературы. 1968. № 4 veröffentlicht, vollständig // Мандельштам О. Собр. соч.: В 3 т. Т. 3. Очерки и письма. Нью-Йорк: Международное литературное содружество, 1969. S. 147–168.

вернуться

270

Vgl.: Dutli R. Tinatina, Eros und die Wimpem — Ossip Mandelstams Georgien-Mythos und die Liebeslyrik // Ders. Europas zarte Hände. Essays über Ossip Mandelstam. Zürich: Ammann Verlag, 1995. S. 101–116.

вернуться

271

Mandelstam О. Armenien, Armenien! Prosa, Notizbuch, Gedichte 1930–1933 / Aus dem Russ, übertragen und hrg. von Ralph Dutli. Zürich: Ammann Verlag, 1995. S. 206. (Im Weiteren: «Armenien, Armenien!»).

вернуться

272

Zit. nach: Sippl C. Reisetexte der russischen Moderne. S. 185.

вернуться

273

Armenien, Armenien! S. 207.

вернуться

274

«К Арарату» // Брюсов и Армения. Кн. 1. С. 34.

вернуться

275

S. Fußnote 19.

вернуться

276

Armenien, Armenien! S. 106.

вернуться

277

Ebenda S. 112.

вернуться

278

Ebenda S. 93.

вернуться

279

Ebenda S. 98.

вернуться

280

Ebenda S. 106.

вернуться

281

Ebenda S. 65.

вернуться

282

Ebenda S. 124.

вернуться

283

Мандельштам О. Собр. соч.: В 3 т. Т. 2. С. 146, 147.

вернуться

284

Zur Struktur des Textes s. Sippl C. Reisetexte der russischen Moderne. S. 189–202.

вернуться

285

Vgl.: «В год тридцать первый от рождения века / Я возвратился, нет — читай насильно / Был возвращён в буддийскую Москву» (Zit. nach: Armenien, Armenien! S. 134). Buddhahaft bedeutete für Mandel’štam Weltabkehr und Lebensverneinung, im politischen Sinn «asiatisch» und «despotisch». Vgl. dazu auch: Dutli R. Mandelstam. Eine Biographie. Frankfurt a. М.: Fischer Taschenbuch Verlag, 2005. S. 360.

вернуться

286

Vgl. die Abschnitte «Замоскворечье» und «Вокруг натуралистов» // Мандельштам О. Собр. соч.: В 3 т. Т. 2. С. 145–155; 162–168.

вернуться

287

Wichtige Vorarbeiten dazu haben bereits Ralph Dutli und Carmen Sippl geleistet.