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Das war nun auch schon wieder Stunden her. Er war nicht mit den anderen zum Abendessen in die Kombüse gegangen. Aber er verspürte auch keinen Hunger. Und wenn er nie wieder einen Bissen essen würde, so war ihm auch das recht. Aber sich mit denen an einen Tisch zu setzen und zu essen, die Vorstellung war ihm unerträglich, war unmöglich. Er, der einzige echte, nicht-pervertierte Mensch auf diesem Schiff voller Zombies, voller Lebendig-Toter — die einzige noch existente reale Menschhaftigkeit…

Alone, alone, all, all alone Alone on a wide wide sea! And never a saint took pity on My soul in agony.[6]

Worte. Fragmentarische Erinnerungsbruchstücke aus einer uralten, unwiederbringlich verlorenen Welt. Zeilen eines Gedichts…

The Sun’s rim dips; the stars rush out: At one stride comes the dark; With far-heard whisper o’er the sea Offshot the spectre-bark.[7]

Lawler blickte zu dem fernen Licht der Sterne auf. Eine unverhoffte Ruhe war über ihn gekommen. Es überraschte ihn, wie gelassen er blieb, als habe er den Bereich überschritten, bis in den Stürme noch vordringen konnten. Sogar in den Tagen, da ihm sein Taubkraut-Extrakt als Tröstung zur Verfügung gestanden hatte und jederzeit griffbereit, hatte er kein derartiges Gefühl von ungetrübtem Frieden erfahren. Jedenfalls kaum jemals so wie jetzt.

Wie kam das? Hatte das Inselland ihn mit einem Zauber belegt wie Sundira, der selbst über die Entfernung hin wirksam wurde?

Das konnte er nicht glauben. Und außerdem würde ihn eine solche Magiermogelei jetzt nicht mehr beeinflussen können. Er war doch inzwischen bestimmt weit außerhalb der Reichweite. Nichts hier draußen vermochte jetzt mehr sein Denken zu beeinflussen — außer dem dunklen Himmelsgewölbe und der gemächlich rollenden See und dem scharfen kantigen Licht der Gestirne. Dort drüben breitete sich das Kreuz über den Südhimmel, der gewaltige Doppelbogen von Sonnen — Milliarden von Sonnen, hatte ihm einmal jemand gesagt. Abermilliarden von Sonnen! Und zehnmal so viele Planetenwelten! Sein Kopf begann unter der Vorstellung schwirren: Diese unendliche Zahl von zu wimmelnden Welten — und voll von Städten, Kontinenten und von tausenderlei verschiedenen Geschöpfen…

Und er starrte zu all diesen Welten und Geschöpfen hinauf in den Himmel, und während er so kosmisch fixiert war, entstand langsam in ihm eine neue Vision, gestaltlos und träge zunächst, dann wurde sie in einem mächtigen Ausbruch klar und deutlich, bis sie schließlich sein Bewußtsein fast völlig erfüllte. Er sah die Sterne als ein einziges weitgespanntes Gewebe, als ein unermeßliches metaphysisches Konstrukt, eine geheimnisvoll in sich verknüpfte galaktische Einheit, so wie auch alle die einzelnen Teilchen hier auf dieser Wasserwelt eine Einheit bildeten.

Kraftlinien pulsierten durch die Leere, flossen wie Blutadern durch das Firmament und verbanden jedes mit allem. Zwischen den Welten eine unendliche schwingende Vernetzung. Er konnte den Atem des Universums fühlen wie den einer einzelnen von unauslöschbarer Lebenskraft brennenden Einheit.

Und Hydros war Teil des himmlischen Kosmos, und der Kosmos war ein einziges gewaltiges lebensglühendes beseeltes Ding. Geh ein in Hydros, und du wirst zum Teil des ALLS. So stand das Angebot. Und einzig er allein, er, Lawler, aus dem ganzen Universum, verweigerte die Vereinigung mit dem Großen Einen.

Er allein. Er als einziger.

War es das, was er wirklich und wahrhaftig wollte? Diese Abgesondertheit, die Einsamkeit der furchtbaren geistigen Unabhängigkeit?

Das ›Antlitz‹ bot die Unsterblichkeit — sogar die Gotthaftigkeit — innerhalb eines gewaltigen geschlossenen Organismus. Und dennoch hatte er es vorgezogen, Valben Lawler zu bleiben und nichts sonst zu werden. Stolz hatte er zurückgewiesen, was den Teilnehmern dieser Reise angeboten wurde. Mochte der arme skrupelzerquälte Quillan sich freudig einem Gott ausliefern, nach dem er sein Leben lang gesucht hatte; sollte doch der kleine Dag Tharp gern alle Tröstung finden, die er brauchte; sollte der geheimnisumwitterte Gharkid, der nach etwas Höherem als er selbst war gesucht hatte, sich aufgeben… Aber ich, Lawler, ich nicht! Ich bin nicht wie sie!

Und er dachte an Kinverson. Sogar er, dieser grobschlächtige einsame Bär, war am Ende übergelaufen. Und Delagard. Und Sundira.

Nun, so soll es denn sein, wie es ist, sagte er sich. Ich bin, der ich bin. So oder so. Und so bleibe ich!

Er lehnte sich zurück und starrte zu den Sternen hinauf und vertiefte sich ganz in das feurige Funkeln des ›Kreuzes‹, bis es ihn ganz erfüllte. Wie friedvoll es jetzt hier ist, dachte er. Wie still.

I woke, and we were sailing on As in a gentle weather: ’Twas night, calm night, the Moon was high; The dead men stood together.[8]

»Val? Ich bin’s.« Er blickte auf. Ein Schatten schob sich zwischen sein Gesicht und die Sterne. Sundira stand dicht bei ihm.

»Darf ich mich zu dir setzen?« fragte sie.

»Wenn du willst.«

Sie ließ sich neben ihm nieder. »Ich hab dich beim Essen vermißt. Wieso bist du nicht gekommen? Du mußt was essen.«

»Ich war nicht hungrig. Aber ihr, ihr eßt noch immer, obwohl ihr verwandelt worden seid?«

»Selbstverständlich. Es ist eine andere Art von Veränderung.«

»Ja, wahrscheinlich. Woher sollte ich das wissen?«

»Ja, wie könntest du das auch wissen.« Sie strich sacht mit der Hand über seinen Arm. Und diesmal zuckte er nicht zurück. »Es hat sich mit uns nicht so viel verändert, wie du vielleicht meinst. Ich lieb dich immer noch, Val. Ich hab dir gesagt, daß ich dich weiter lieben würde, und es ist wahr.«

Er nickte. Es gab nichts, was er hätte sagen können.

Liebte auch er sie noch? War so etwas überhaupt auch nur vorstellbar?

Er ließ den Arm um ihre Schulter gleiten. Die Haut war weich und kühl und so vertraut. So angenehm. Sie kuschelte sich an ihn. Sie hätten die einzigen Menschen auf der Welt sein können. Und sie fühlte sich für Lawler noch immer sehr menschlich an. Er beugte sich zu ihr und küßte sie sacht in die Kuhle zwischen Hals und Schulter. Sie kicherte.

»Val!« sagte sie. »Ach, Val…«

Das war alles, nur sein Name. Was dachte sie? Was hatte sie ungesagt gelassen? Daß sie sich wünschte, er wäre mit ihr gemeinsam zur Insel gegangen? Daß sie noch immer hoffte, er werde es tun? Daß sie betete, er möge zu Delagard gehen und ihn bitten, das Schiff zu wenden und zur Insel zurückzusegeln, auf daß auch er die Verwandlung erleben könne?

Und hätte ich nicht vielleicht doch mit ihr gehen sollen? War es falsch, daß ich mich verweigert habe?

Einen Augenblick lang sah er sich selbst im Innern, als Teil der Maschine, als Teil des ALLS — endlich preisgegeben, aufgegeben, überantwortet und tanzend mit allem übr igen.

Nein. Nein. Nein und Nein! Ich bin, der ich bin. Und ich habe getan, was ich tat, weil ich bin, der ich bin!

Er lehnte sich wieder zurück, und Sundira kuschelte sich an ihn. Er blickte wieder zu den Sternen auf. Und wieder eine neue Vision überkam ihn: Die ALTE ERDE von einst, das Verlorene Paradies.

Seine große romantische Träumerei von dem alten zerstörten Planeten, diesem blauschimmernden Juwel, der verlorenen, vergewaltigten, vernichteten Mutterwelt der menschlichen Rasse, erfüllte seine Seele aufs neue. Er sah sie, wie er sich wünschte, daß sie gewesen sei: eine friedvolle harmonische Welt, wimmelnd von liebevollen friedlichen Menschen, ein Heiligtum und eine Zufluchtsstätte, die perfekte geschlossene Einheit. Aber war es auf der ALTEN ERDE wirklich jemals so gewesen? Aller Wahrscheinlichkeit nach nicht, dachte er. Nein, höchstwahrscheinlich nicht. Es war ein Planet wie jeder andere gewesen, und Böses und Übles kamen auch dort reichlich vor, und Unzulänglichkeit und Fehlschläge… Und außerdem und überhaupt war dieser Planet aus dem Universum verschwunden. Ausgelöscht durch einen bösen Unstern, ein übles Verhängnis.

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6

Allein, allein, ganz allein, allein auf einem weiten, weiten Meer! Und kein einziger Heiliger erbarmte sich meiner Seele in ihrer Qual.
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7

Der Rand der Sonne taucht unter; die Sterne brechen hervor: Auf einen Schlag wird es dunkel; mit weit hörbarem Wispern schoß das Geisterschiff über das Meer davon.
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8

Ich erwachte, und wir segelten weiter wie bei ruhigem Wetter: Es war Nacht, stille Nacht, der Mond stand hoch; die Toten standen beisammen.