Den Rest seiner Habe, wenn man es als solche bezeichnen konnte, seine bescheidenen Möbel und Lampen und einige Ziergegenstände, die er aus Strandgut selbst gefertigt hatte, hatte er den Gillies vererbt. Seine Praxisausrüstung, die meisten seiner Medikamente und die schmale Bibliothek handschriftlicher Fachtexte befanden sich vorn neben der Kombüse in einer Kabine, die als Krankenstation diente. Der Großteil der Arzneivorräte lagerte drunten im Frachtdeck.
Er entzündete einen Wachsstock und besah sich im Spiegel seine Wange. Der ›Spiegel‹ war ein klobiges grobes Stück Seeglas, das Sweyner vor Jahren für ihn gefertigt hatte, und das dabei gewonnene Abbild war grob, verquollen und wolkenhaft undeutlich. Glas von hoher Qualität war auf Hydros eine Seltenheit, wo die einzige Rohstoffquelle für Quarz die Diatomeenbänke, die Kieselalgenablagerungen, auf dem Boden der Bucht waren. Doch Lawler hing an diesem Spiegel, so voller Blasen und so trüb er sein mochte.
Die heftige Begegnung mit dem Schleimaal schien keinen ernstlichen Schaden angerichtet zu haben. Über dem linken Wangenknochen war eine leichte Abschürfung zu erkennen, eine geringe Schmerzempfindung, wo ein paar der rötlichen Borsten in der Haut abgebrochen waren, weiter nichts. Lawler tupfte die Stelle mit einigen Tropfen von Delagards Beerenkraut-Brandy ab, gegen eine eventuelle Infektion. Sein sechster Sinn als Arzt sagte ihm, er brauche sich weiter keine Sorgen zu machen.
Seine Taubkrautflasche stand neben der mit dem Brandy. Er betrachtete sie nachdenklich einige Sekunden lang.
Er hatte seine normale Tagesration bereits genommen, vor dem Frühstück. Er brauchte keine weitere Dosis. Noch nicht.
Aber, zum Teufel, warum eigentlich nicht, dachte er. Was soll’s!
Später ertappte er sich dabei, daß er zu den Mannschaftsquartieren wanderte, auf der Suche nach Gesellschaft; er hatte keine Ahnung, wen er suchte.
Es war bereits wieder Wachablösung. Die zweite Schicht tat jetzt Dienst, der Gemeinschaftsschlafraum steuerbord war leer. Lawler spähte in den anderen Raum und sah dort Kinverson in seiner Koje schlafen. Natim Gharkid saß mit geschlossenen Augen im Schneidersitz da, als befinde er sich in Trance oder irgendeiner Meditation. Und Leo Martello kauerte über einer niedrigen Holztruhe und kritzelte im dünnen Lampenschein eifrig in ausgebreiteten Papieren herum. Wahrscheinlich, dachte Lawler, arbeitet er an seinem unendlichen Epos.
Martello war um die dreißig, kräftig, voller Energie; meist schoß er umher, als hätte er Sprungfedern im Hintern. Große braune Augen, ein freimütig-offenes Gesicht. Er ging gern mit kahlgeschorenem Kopf. Sein Vater war als Freiwilliger nach Hydros gekommen, ein Selbstexilierter, ein Landekapselmann. Er war auf Sorve aufgetaucht, als Lawler noch ein Junge war, und hatte Jinna Sawtelle, die ältere Schwester von Damis, geheiratet. Beide waren jetzt schon tot, hinweggerissen von der WOGE, als sie in einem kleinen Boot zu unguter Zeit draußen waren.
So etwa ab seinem vierzehnten Lebensjahr hatte Martello auf der Delagard-Werft gearbeitet; aber sein Hauptanspruch, etwas Besonderes zu sein, basierte auf dem gewaltigen Gedicht, das zu schreiben er behauptete: eine gewaltige Nacherzählung der grandiosen Auswanderung von der dem Untergang geweihten ERDE zu den Neuen Welten der Galaxis. Seit Jahren arbeitete er daran (behauptete er). Niemand hatte mehr als ein paar Zeilen davon gesehen.
Lawler blieb im Türluk stehen, da er nicht stören wollte.
»Ah, Doktor«, sagte Martello. »Sie kommen mir gerade recht. Ich brauche was gegen Sonnenbrand. Ich hab es heute wahrhaftig arg übertrieben.«
»Na, dann wollen wir uns das mal ansehen.«
Martello ließ das Hemd von den Schultern gleiten. Trotz seiner dunklen Bräunung sah man die Rötung unter den Epidermalschichten. Die Sonne von Hydros war stärker als jene, in deren Strahlen die Evolution der menschlichen Urahnenrasse erfolgt war. Lawler hatte stets alle Hände voll zu tun gehabt, um Hautkrebse, UV-Überbelastungsvergiftungen und alle nur erdenklichen dermatologischen Probleme zu behandeln.
»Na, es sieht ja nicht allzu bös aus«, beruhigte Lawler den Mann. »Komm morgen früh bei mir vorbei, dann kümmere ich mich darum. Wenn du glaubst, du wirst heut nicht schlafen können, kann ic h dir aber auch gleich was geben.«
»Nein, nein. Es geht schon. Ich schlaf eben auf dem Bauch.«
Lawler nickte erleichtert. »Was macht das berühmte Epos?«
»Es geht zäh voran. Ich habe den Fünften Gesang umzuschreiben begonnen.«
Lawler war nur milde überrascht, als er sich selbst auf einmal sagen hörte: »Darf ich mal reinschauen?«
Martello war noch mehr überrascht. Dann schob er ihm eines der sich rollenden Algenpapierblätter zu. Lawler hielt es mit beiden Händen offen, um lesen zu können. Martellos Schrift war knabenhaft-linkisch und unelegant, voller gewaltiger Schleifen und Schnörkel.
»Und unsere Mütter auch«, bemerkte Lawler.
»Jaja, die auch«, erwiderte Martello, leicht verärgert. »Sie bekommen einen eigenen Gesang, ein bißchen später.«
»Gut so«, sagte Lawler. »Sehr stark, die Poesie. Aber natürlich, ich verstehe nicht genug davon. Du schätzt es nicht, wenn sich Gedichtzeile n reimen?«
»Doktor! Der Endreim ist schon seit Hunderten von Jahren aus der Mode!«
»Ach, wirklich? Das habe ich gar nicht gewußt. Mein Vater hat uns manchmal Gedichte vorgesagt, alte Sachen von der ERDE. Die scheinen dort damals aber gern gereimt zu haben. It is an ancien Mariner / And he stoppeth one of three. / ›By thy long grey beard and glittering eye, / Now where-fore stopp’st thou me?‹« [2]
»Was für ein Gedicht ist das?« fragte Martello.
»Es hieß The Rime of the Ancient Mariner. Und es handelt von einer Fahrt übers Meer — einer sehr unseligen Reise. The very deep did rot; / O Christ! / That ever this should be! / Yea, slimy things did crawl with legs / Upon the slimy sea.«[3]
»Stark. Kannst du noch mehr davon auswendig?«
»Nur ein paar verstreute Zeilen«, gestand Lawler.
»Wir sollten uns mal zusammensetzen und über Poesie reden, Doc. Ich hab ja gar nicht gewußt, daß du Gedichte kennst.« Über Martellos sonniges Gesicht flog flüchtig ein Schatten. »Auch mein Vater liebte diese alten Gedichte. Von dem Planeten, auf dem er lebte, bevor er hierherkam, hatte er ein Buch mit Gedichten von der ERDE mitgebracht. Wußtest du das?«
»Nein«,sagte Lawler aufgeregt. »Wo ist es?«
»Fort. Er hatte es dabei, als er und Mutter ertrunken sind.«
»Das hätte ich gern gelesen«, sagte Lawler betrübt.
»Manchmal hab ich Momente, da glaube ich, daß ich dieses Buch genauso schmerzlich vermisse wie meine Eltern«, sagte Martello. Dann setzte er naiv hinzu: »Ist es abscheulich, so was zu sagen, Doktor?«
»Ich glaub nicht. Ich glaube, ich verstehe, was du meinst.« Water, water, every where, dachte er. And all the boards did shrink. »Hör zu, Leo, komm nach deiner Schicht am Morgen sofort zu mir, ja? Dann behandle ich dir den verbrannten Rücken.«
2
Es ist ein alter Seemann, / und der hält einen von dreien an. / »Bei deinem langen grauen Bart und funkelnden Auge, / sag, warum hältst du mich an?
3
Die Tiefe selbst vermoderte: O Gott! / daß es so etwas geben konnte! / Schleimiges Zeug mit Beinen kroch / auf dem schleimigen Meer. — Samuel Taylor Coleridge (1772–1834), ›Die Ballade vom alten Seemann‹; zitiert nach ›Gedichte der englischen Romantik‹, hrsg. von Raimund Borgmeier, Stuttgart: Philipp Reclam jun., 1980