Als er hinterher wieder zu Bewusstsein kam (oder ins Bewusstsein herabstieg, denn bis dahin war er irgendwo darüber geschwebt), war er von einer tiefen Einsicht erfüllt.
Er befand sich wieder im ›Saal der Wunden‹, in einiger Entfernung von dem weißen Licht und immer noch im Bezugssystem des rotierenden Edelsteins.
Und er wusste.
Calvins Stimme zerriss so jäh und ungehörig wie ein Trompetenstoß die tiefe Stille. »Was für eine Reise!«
»Hast du… alles miterlebt?«
»Sagen wir so: es war das unheimlichste Erlebnis, das ich jemals hatte. Ist deine Frage damit beantwortet?«
Es genügte. Sylveste brauchte nicht weiter zu fragen, sich nicht weiter zu überzeugen. Calvin hatte nicht nur alle seine Gefühle geteilt, für einen Moment hatten sich ihre Gedanken — und nicht nur sie — verflüssigt und waren mit Billiarden von anderen untrennbar zu einem gewaltigen Strom verschmolzen. Und er verstand bis ins Letzte, was geschehen war, weil er in diesem Moment das Wissen, die Weisheit dieser großen Gemeinschaft geteilt und Antwort auf alle Fragen erhalten hatte.
»Wir wurden abgetastet, nicht wahr? Dieses Licht ist ein Scanner; eine Anlage zur Informationsgewinnung.« Bevor er die Worte ausgesprochen hatte, waren sie ihm noch ganz vernünftig erschienen, doch nun empfand er die Beschreibung als ungenügend und zu wenig subtil, sie erniedrigte das Objekt. Er hatte ungeheure Erkenntnisse gewonnen, aber sein Wortschatz war nicht in gleichem Maße mitgewachsen, und so konnte er sie nicht fassen. Auch drohte das Wissen bereits zu verblassen wie ein Traum mit all seiner Magie in den ersten Sekunden nach dem Erwachen. Aber er musste es aussprechen, um wenigstens zu kristallisieren, was er empfand; damit der Anzug es speicherte und für die Nachwelt bewahrte. »Ich glaube, wir wurden für kurze Zeit in Information umgewandelt und mit allen Informationen vernetzt, die jemals existierten; mit allen Gedanken, die jemals gedacht oder zumindest von diesem Licht eingefangen wurden.«
»Auch ich habe es so empfunden«, bestätigte Calvin.
Sylveste hätte gern gewusst, ob Calvin ebenfalls von dieser wachsenden Amnesie, dem langsamen Schwund des Wissens betroffen war.
»Wir waren im Innern von Hades, nicht wahr?« Sylvestes Gedanken waren in Aufruhr, drängten verzweifelt danach, Ausdruck zu finden, verbalisiert zu werden, bevor sie sich verflüchtigten. »Er ist gar kein Neutronenstern. Mag sein, dass er früher einer war, aber jetzt nicht mehr. Er wurde umgewandelt; man hat ihn zu einem…«
»Computer gemacht«, vollendete Calvin. »Genau das ist Hades. Ein Computer aus nuklearer Materie. Die Masse eines ganzen Sterns wird zur Verarbeitung und zur Speicherung von Informationen genutzt. Und dieses Licht ist ein Zugang; mit ihm kann man in die Matrix eindringen. Und wir waren einen Moment lang tatsächlich drin.«
Doch die Wirklichkeit war noch spektakulärer.
Ein Stern mit einer Masse vom Dreißig- bis Vierzigfachen der irdischen Sonne hatte — nach mehreren Millionen Jahren rücksichtsloser Energieverschwendung — das Ende seiner nuklearen Brenndauer erreicht und war zur Supernova explodiert. In seinem Kern war durch den gewaltigen Gravitationsdruck ein Materieklumpen innerhalb seines eigenen Schwarzschildradius so lange komprimiert worden, bis ein Schwarzes Loch entstand. Das Schwarze Loch hieß so, weil nichts, nicht einmal das Licht seinem kritischen Radius entfliehen konnte. Materie wie Licht konnten nur in das Schwarze Loch hineinstürzen und damit dessen Masse und Anziehungskraft noch vergrößern — ein Teufelskreis.
Irgendwann entwickelte sich eine Kultur, die für ein solches Objekt Verwendung hatte. Sie kannte ein Verfahren, mit dem sich ein Schwarzes Loch in ein weit exotischeres, in sich widersprüchlicheres Gebilde verwandeln ließ. Zuerst wartete man, bis das Universum um einiges älter war als zur Entstehungszeit des Schwarzen Lochs; bis die Sternenpopulation vorwiegend aus sehr alten roten Zwergen bestand, deren Masse kaum noch ausreichte, um die eigene Kernfusion in Gang zu halten. Dann scharten sie ein Dutzend dieser Sterne um das Schwarze Loch herum und bildeten eine Akkretionsscheibe, die langsam Sternenmaterie auf den lichtverschlingenden Ereignishorizont regnen ließ und so das Loch speiste.
So weit war Sylveste mitgekommen, jedenfalls wiegte er sich in dieser Illusion. Der nächste Teil — der Kern des Ganzen — glich einem Zen-Koan[2] und war sehr viel schwerer zu fassen. Sylveste begriff nur so viel, dass die Teilchen, wenn sie sich erst innerhalb des Ereignishorizonts befanden, weiter bestimmten Trajektorien folgten und auf bestimmten Bahnen um den unendlich dichten Kern, die Singularität im Herzen des Schwarzen Lochs getragen wurden. Entlang dieser Trajektorien verschmolzen Raum und Zeit allmählich miteinander, bis sie nicht mehr sauber zu trennen waren. Und — das war das Entscheidende — es gab eine Menge von Trajektorien, bei der die beiden vollends die Plätze tauschten und eine Bahn durch den Raum zu einer Bahn durch die Zeit wurde. Auf einer Teilmenge dieser Trajektorien-Schar konnte Materie sich tatsächlich in die Vergangenheit zurücktunneln, in eine frühere Phase der Geschichte des Schwarzen Lochs.
»Ich greife auf Texte aus dem zwanzigsten Jahrhundert zu«, murmelte Calvin. Er hatte Sylvestes Gedankengängen offenbar zu folgen vermocht. »Der Effekt war schon damals bekannt — oder wurde vorhergesagt. Man hielt ihn für eine logische Weiterentwicklung der mathematischen Beschreibung Schwarzer Löcher. Aber niemand wusste, wie ernst er zu nehmen war.«
»Wer immer Hades konstruierte, hatte diese Bedenken nicht.«
»So sieht es aus.«
Wenn nun Licht, Energie oder Teilchenströme auf diese speziellen Trajektorien gerieten, drangen sie mit jedem Umlauf um die Singularität tiefer in die Vergangenheit vor. Das Geschehen war durch die undurchdringliche Barriere des Ereignishorizonts vom Rest des Universums abgeschirmt, und da es von außen nicht ›erkennbar‹ war, verstieß es auch nicht direkt gegen die Gesetze der Kausalität. Den mathematischen Theorien zufolge, auf die Calvin zugegriffen hatte, wäre ein solcher Verstoß nicht möglich gewesen, da diese Trajektorien niemals ins externe Universum zurückführen konnten. Aber sie taten es doch. Die Mathematiker hatten nämlich einen Sonderfall übersehen: eine winzig kleine Untermenge einer Teilmenge von Trajektorien beförderte tatsächlich Quanten bis zum Zeitpunkt der Entstehung des Schwarzen Loches zurück, bis zum Kollaps bei der Supernova-Explosion seines Vatersterns.
In diesem Moment bewirkte der minimale Außendruck der aus der Zukunft eintreffenden Teilchen, dass sich der gravitationelle Einsturzprozess verzögerte.
Die Verzögerung war nicht einmal messbar; sie war kaum länger als das kleinste theoretische Zeit-Quantum, die Planck-Zeit. Aber sie existierte. Und trotz ihrer Geringfügigkeit löste sie kausale Stoßwellen aus, die in die Zukunft zurückschlugen.
Wenn diese kausalen Stoßwellen auf die eintreffenden Teilchen trafen, entstand ein kausales Interferenzgitter, eine stehende Welle, die symmetrisch in die Vergangenheit und in die Zukunft hinein reichte.
Das kollabierte Objekt war in diesem Gitter gefangen und wusste nicht mehr, ob es wirklich zum Schwarzen Loch bestimmt war. Schon die Anfangsbedingungen waren grenzwertig gewesen, vielleicht ließen sich die Verwicklungen vermeiden, wenn es oberhalb des Schwarzschild-Radius verharrte; wenn es stattdessen zu einer stabilen Konfiguration aus Strange Quarks und entarteten Neutronen kollabierte.
Es oszillierte so lange unschlüssig zwischen den beiden Zuständen, bis die Unschlüssigkeit kristallisierte. Was zurückblieb, war einmalig im Universum — wenn man davon absah, dass anderswo an anderen Schwarzen Löchern ähnliche Transformationen ausgelöst wurden und ähnliche Kausalparadoxa entstanden.
2
Koan [jap.] ursprünglich: ›Gesetz, Regierungserlass‹. Widersprüchliches Existenzproblem mit meist absurder Aussage. Prinzip der Ewigen Wahrheit, die durch einen Meister weitergegeben wird. Wird hauptsächlich in der Rinzai-Schule verwendet. —