Sylveste wusch sich mit warmem Wasser und einem Schwamm, stutzte sich sorgfältig den Bart und band sich das Haar zurück. Dann zog er sich an: Samthemd, Hosen, darüber einen Kimono, der mit Amarantin-Skeletten bedruckt war. Danach frühstückte er — das Essen stand immer schon in einer kleinen Nische bereit, wenn der Wecker klingelte — und sah wieder auf die Uhr. Sie würde bald hier sein. Er machte das Bett und klappte es um. Jetzt war es eine Couch mit einem Bezug aus scharlachrotem grob genarbtem Leder.
Pascale wurde wie immer von einem menschlichen Leibwächter und zwei bewaffneten Servomaten begleitet, die aber die Zelle nicht betraten. Was sie mitbrachte, war ein kleiner Flugkörper, der surrte wie eine aufziehbare Wespe. Das Ding sah ganz harmlos aus, aber Sylveste wusste, dass er mit einem dritten Auge in der Mitte der Stirn belohnt würde, wenn er in Gegenwart seiner Biografin nur einer Blähung nachgab.
»Guten Morgen«, sagte sie.
»Was soll an diesem Morgen gut sein?«, fragte Sylveste und deutete mit einem Nicken zum Fenster hin. »Erstaunlich, dass Sie es überhaupt geschafft haben, hierher durchzukommen.«
Sie setzte sich auf einen Schemel mit Samtpolsterung. »Ich habe gute Beziehungen zum Sicherheitsdienst. Deshalb gab es trotz der Ausgangssperre keine Schwierigkeiten.«
»Hat man jetzt schon eine Ausgangssperre verhängt?«
Pascale trug eine Kappe im Violett der Fluter. Ihr dichter, schnurgerader schwarzer Pony betonte die Blässe ihres maskenhaft starren Gesichts. Die knappe Jacke und die eng anliegenden Hosen waren violett und schwarz gestreift. Sie wurde umschwärmt von entoptischen Tautropfen, Seepferdchen und fliegenden Fischen, die rosa-bläuliche Flitterstreifen hinter sich herzogen. Die Füße hatte sie nach innen gedreht, so dass sich die Zehen berührten, und der Oberkörper war leicht nach vorne geneigt. Sylveste saß ihr gegenüber und beugte sich ebenfalls vor.
»Die Zeiten ändern sich, Doktor. Das sollte gerade Ihnen klar sein.«
Sie hatte Recht. Er saß jetzt seit zehn Jahren in diesem Gefängnis im Herzen von Cuvier. Das neue Regime, das ihn nach dem Umsturz abgelöst hatte, war in altbewährter Revolutionsmanier ebenso brüchig geworden wie seine Vorgänger. Doch obwohl die politische Landschaft zerrissen war wie eh und je, war die Grundsituation eine völlig andere. Zu seiner Zeit hatte es nur zwei gegnerische Parteien gegeben: eine Gruppe, deren Ziel es war, die Amarantin zu studieren, und eine andere, die Resurgam terraformen wollte, um aus der provisorischen Forschungsstation eine lebensfähige menschliche Kolonie zu machen. Selbst die Verfechter des Terraformens, die Fluter, hatten eingeräumt, dass sich das Studium der Amarantin einmal gelohnt haben mochte. Heutzutage stritten die politischen Parteien nur noch darüber, in welchem Tempo das Terraformen vorangetrieben werden sollte, wobei das Spektrum von Befürwortern langsamer, auf Jahrhunderte angelegter Projekte bis zu Anwälten einer Atmosphäretransformation reichte, die so radikal war, dass die Menschen während des betreffenden Zeitraums vermutlich evakuiert werden müssten. Nur eines stand fest: selbst die schonendsten Eingriffe würden viele Geheimnisse der Amarantin unwiderruflich zerstören. Doch das beeindruckte offenbar kaum jemanden — und die wenigen, die anders dachten, waren zu eingeschüchtert, um die Stimme zu erheben. Abgesehen von einer Stammtruppe verbitterter, schlecht bezahlter Archäologen bekundete inzwischen kaum noch jemand Interesse an den Amarantin. Innerhalb von zehn Jahren war die Beschäftigung mit den ausgestorbenen Fremdintelligenzen zu einer toten Wissenschaft verkommen.
Und die Bedingungen verschlechterten sich noch weiter.
Fünf Jahre zuvor war ein Handelsschiff durch das System gekommen. Das Lichtschiff hatte seine Ramscoop-Felder[1] eingezogen und war, ein neuer, heller Stern am Himmel über Resurgam, in den Orbit gegangen. Sein Kommandant, Captain Remilliod, hatte ein riesiges Sortiment an technischen Wunderwerken zu bieten: neue Produkte aus anderen Systemen und Dinge, die man vor der Meuterei zum letzten Mal gesehen hatte. Aber die Kolonie konnte sich nicht alles leisten, was Remilliod zu verkaufen hatte. Wofür man sich entscheiden sollte, war Gegenstand leidenschaftlicher Debatten: lieber Maschinen oder Medikamente; Flugzeuge oder Terraformungs-Anlagen? Gerüchte von heimlichen Geschäften mit Waffen und verbotener Technologie machten die Runde, und obwohl der allgemeine Lebensstandard in der Kolonie höher war als zu Sylvestes Zeit — man denke nur an die Servomaten und die Implantate, die für Pascale inzwischen selbstverständlich waren —, hatten sich unüberbrückbare Risse unter den Flutern aufgetan.
»Girardieu müsste Todesängste ausstehen«, sagte Sylveste.
»Keine Ahnung«, sagte Pascale eine Spur zu hastig. »Für mich zählt nur mein Ablieferungstermin.«
»Worüber wollen Sie heute sprechen?«
Pascale schaute auf das Notepad nieder, das sie auf den Knien hielt. Innerhalb der letzten sechshundert Jahre hatten die Computer jede Form und jeden Aufbau durchlaufen, die man sich nur vorstellen konnte, aber die einfache Zeichentafel — eine flache Platte mit handschriftlicher Eingabemöglichkeit — war nie für längere Zeit aus der Mode gekommen. »Ich möchte, dass Sie mir erzählen, was mit Ihrem Vater geschehen ist«, sagte sie.
»Sie meinen die Achtzig? Ist der Komplex für Ihre Bedürfnisse denn noch nicht ausreichend dokumentiert?«
»Fast.« Pascale berührte ihre purpurrot geschminkten Lippen mit der Spitze ihres Eingabestifts. »Ich habe natürlich alle Standardberichte durchgesehen. Nur eine kleine Frage konnte ich noch nicht zu meiner Zufriedenheit beantworten.«
»Und wie lautet die?«
Eines musste er ihr lassen. Es war beeindruckend, wie sie es schaffte, auch die leiseste Spur von Anteilnahme zu unterdrücken. Als ginge es wirklich nur darum, ein loses Ende zu verknüpfen. Es war eine Kunst. Um ein Haar wäre er ihr in die Falle gegangen. »Ich spreche von der Alpha-Aufzeichnung Ihres Vaters«, sagte Pascale.
»Ja?«
»Ich möchte gerne wissen, was hinterher wirklich daraus geworden ist.«
Der Mann mit der Trickwaffe lotste Khouri durch den leichten Innenregen zu einer wartenden Seilbahn, die ebenso unauffällig und ohne Kennzeichen war wie der Palankin, den er im Denkmal zurückgelassen hatte.
»Steigen Sie ein.«
»Einen Augenblick bitte…« Doch Khouri hatte kaum den Mund aufgemacht, als sie die Mündung der Waffe im Rücken spürte. Nicht schmerzhaft, nicht brutal — nur eine deutliche Erinnerung. Gerade diese Zurückhaltung verriet, dass der Mann ein Profi war und sehr viel bedenkenloser schießen würde als jemand, der aggressiver vorgegangen wäre. »Immer mit der Ruhe; ich gehe ja schon. Aber wer ist eigentlich diese Mademoiselle? Steht sie hinter einem Konkurrenten der Schatten!«
»Nein. Das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Denken Sie nicht so provinziell.«
Sie sah schon, er würde ihr nichts Brauchbares verraten. Obwohl sie sicher war, damit nicht weiterzukommen, fragte sie: »Und wer sind Sie?«
»Carlos Manoukhian.«
Das beunruhigte sie noch mehr als seine Art, mit der Waffe umzugehen. Es klang zu aufrichtig. Das war kein Deckname. Jetzt kannte sie also seinen Namen — und konnte sich denken, dass der Mann zumindest ein Verbrecher war, auch wenn diese Bezeichnung im rechtsfreien Raum von Chasm City nur Gelächter hervorgerufen hätte. Das wiederum bedeutete, dass er vorhatte, sie später zu töten.