Noch einmal erklärte ich Obsle, es müsse doch möglich sein, daß Ai sein Sternenschiff per Funk kontaktiere, die Besatzung wecke und sie bäte, über ein Funkgerät in der Halle der Dreiunddreißig mit den Commensalen zu sprechen. Diesesmal hatte Obsle sofort einen Grund parat, weshalb das nicht möglich sei.»Hören Sie, mein lieber Estraven, der Sarf kontrolliert, wie Sie ja inzwischen wissen, sämtliche Radiostationen bei uns. Sogar ich selber habe keine Ahnung, welche der Männer in der Kommunikation Sarf-Leute sind; vermutlich die meisten, denn ich weiß mit Sicherheit, daß sie die Sender und Empfänger auf jeder Stufe, bis hinunter zu den Technikern und Reparaturfachleuten in der Hand haben. Sie könnten und würden jede Übertragung, die wir empfangen — wenn wir überhaupt eine empfangen -, blockieren oder verfälschen. Können Sie sich diese Szene in der Halle vorstellen? Wir ›Weltraumgläubige‹ — Opfer unseres eigenen Schwindels, mit angehaltenem Atem den statischen Geräuschen lauschend, während ansonsten nicht das geringste zu hören ist, keine Antwort, keine Botschaft?«
»Und Sie haben nicht das Geld, um ein paar zuverlässige Techniker zu mieten oder einfach ein paar von den ihren zu kaufen?«erkundigte ich mich. Aber es war zwecklos. Er fürchtet um sein Prestige. Auch sein Verhalten mir gegenüber hat sich geändert. Wenn er den Empfang für den Gesandten heute abend absagt, stehen die Dinge schlecht.
Odarhad Susmy. Er hat den Empfang abgesagt.
Heute morgen ging ich aus, um mit dem Gesandten zu sprechen: auf typische Orgota-Manier. Das heißt, nicht offen in Shusgis’ Haus, wo es von Sarf-Agenten unter den Hausangestellten wimmelt und Shusgis sogar selbst einer ist, sondern genau wie Gaum, gelegentlich einer zufälligen Begegnung, indem ich mich heimlich an ihn heranmachte.»Mr. Ai, würden Sie mich bitte einen Moment anhören?«
Er drehte sich erschrocken um und wurde, als er mich erkannte, unruhig. Nach einem Augenblick entgegnete er:»Wozu, Mr. Harth? Sie wissen, daß ich mich seit Erhenrang nicht mehr auf das, was Sie sagen, verlassen kann…«
Das war sehr offen, wenn es auch nicht von großer Menschenkenntnis zeugte. Doch eine gewisse Menschenkenntnis verriet es trotzdem, denn er wußte sofort, daß ich ihn nicht um etwas bitten, sondern ihm einen Rat geben wollte, und er sprach das, um meinen Stolz zu retten, auch aus.
Ich entgegnete:»Wir sind zwar in Mishnory, nicht in Erhenrang, aber die Gefahr, in der Sie schweben, ist die gleiche. Wenn Sie Obsle oder Yegey nicht die Zustimmung zur Aufnahme des Funkkontakts mit Ihrem Schiff abringen können, so daß die Besatzung zwar in Sicherheit bleibt, Ihren Behauptungen aber trotzdem eine Basis geben kann, dann sollten Sie, wie ich meine, Ihren eigenen Apparat, den Ansible, nehmen und das Schiff herunterholen. Das Risiko, das es dabei eingeht, ist geringer als das Risiko, das Sie eingehen, solange Sie ganz allein hier sind.«
»Die Debatten der Commensalen über meine Botschaft waren geheim. Woher wissen Sie von meinen ›Behauptungen‹, Mr. Harth?«
»Weil ich es mir zum Lebenszweck gemacht habe, so viel wie möglich zu wissen.«
»Aber hier gehen diese Dinge Sie nichts an, Sir. Sie sind ausschließlich Sache der Commensalen von Orgoreyn.«
»Ich versichere Ihnen, daß Sie in Lebensgefahr sind, Mr. Ai!«wiederholte ich. Er schwieg, und ich ging.
Ich hätte schon vor Tagen mit ihm sprechen sollen. Jetzt ist es zu spät. Schon wieder vereitelt die Angst seine Mission und meine Hoffnungen. Nicht die Angst vor dem Fremden, dem Unirdischen — hier nicht. Diese Orgota besitzen weder genug Verstand noch Geistesgröße, um das zu fürchten, was wahrhaft und ungeheuerlich fremdartig ist. Sie können es nicht einmal erkennen. Sie betrachten den Mann von einer anderen Welt und sehen — was? Einen Spion von Karhide, einen Perversen, einen Agenten, den Vertreter einer ebenso jämmerlichen, kleinen politischen Einheit, wie sie es sind.
Wenn er nicht sofort dieses Schiff herunterholt, ist es zu spät. Vielleicht ist es sogar jetzt schon zu spät.
Meine Schuld. Ich habe alles falsch gemacht.
ZWÖLFTES KAPITEL
Die Zeit und die Dunkelheit
Aus ›Die Worte Tuhulmes, des Hohenpriesters‹, einem Buch des Yomesh-Kanons, zusammengestellt vor etwa 900 Jahren in Nord-Orgoreyn.
Meshe ist der Mittelpunkt der Zeit. Der Augenblick in seinem Leben, da er alle Dinge klar und deutlich sah, kam, als er bereits dreißig Jahre auf dieser Welt gelebt hatte, und danach lebte er abermals dreißig Jahre auf dieser Welt, so daß sich das Sehen im Mittelpunkt seines Lebens zutrug. Und alle Zeitalter bis zu seinem Sehen waren so lang, wie die Zeitalter nach seinem Sehen sein werden, das sich im Mittelpunkt der Zeit zutrug. Und dort im Mittelpunkt gibt es keine Zeit, die vergangen ist, und keine Zeit, die kommt. Sie ist in alle Zeiten vergangen. Sie wird in alle Zeiten kommen. Sie ist nicht gewesen und wird nicht sein. Sie ist. Sie ist alles.
Nichts bleibt ungesehen.
Der Arme von Sheney kam zu Meshe und klagte, er habe nichts, was er seinem leiblichen Kind zu essen geben könne, und er habe kein Korn zur Aussaat, weil der Regen die Saat im Boden verdorben habe und alle Menschen seines Herdes verhungerten. Meshe sagte:»Grabe in den Steinfeldern von Tuerresh, dort wirst du einen Schatz aus Silber und kostbaren Steinen finden. Denn ich sehe einen König, der ihn vor zehntausend Jahren vergräbt, während ein Nachbarkönig ihn mit Fehde bedroht.«
Der Arme von Sheney grub in den Moränen von Tuerresh und hob an der Stelle, die Meshe ihm gezeigt hatte, einen großen Schatz uralter Juwelen ans Licht. Bei diesem Anblick schrie er vor Freude laut auf. Doch Meshe, der neben ihm stand, weinte bei diesem Anblick und sagte:»Ich sehe einen Mann, der wegen eines dieser Steine seinen Herdbruder tötet. Das geschieht in zehntausend Jahren, und die Knochen des Ermordeten werden hier in dieser Grube liegen, wo jetzt der Schatz liegt. Oh, Mann von Sheney, ich weiß, wo dein Grab ist: Ich sehe dich darin liegen.«
Das Leben jedes Menschen liegt im Mittelpunkt der Zeit, denn alle wurden beim Sehen von Meshe gesehen und sind in seinem Auge. Wir sind die Pupillen seines Auges. Unsere Taten sind sein Sehen, unser Sein ist sein Wissen.
Ein Hemmen-Baum im Herzen des Ornen-Waldes, der hundert Meilen lang und hundert Meilen breit ist, war alt und groß gewachsen, er hatte hundert Äste und an jedem Ast tausend Zweige und an jedem Zweig hundert Blätter. Der Baum sagte sich:»Alle meine Blätter sind zu sehen, nur dieses eine nicht, dieses eine im Schatten, der von allen anderen geworfen wird. Dieses eine Blatt werde ich wie ein Geheimnis für mich behalten. Wer wird es im Schatten meiner vielen Blätter sehen? Und wer wird sie alle zählen?«
Nun kam aber Meshe auf seinen Wanderungen durch den Ornen-Wald und pflückte dieses eine Blatt von dem Baum.
Kein Regentropfen, der in den Herbst stürmen fällt, ist jemals zuvor schon gefallen, und der Regen ist gefallen und fällt und wird fallen — während aller Herbstmonate aller Jahre. Meshe sah jeden Tropfen, sah wohin er fiel, sieht wohin er fällt und fallen wird.
In den Augen Meshes sind alle Sterne und die Dunkelheiten zwischen den Sternen: und alle sind sie hell.
Bei der Antwort auf die Frage des Herrn von Shorth, im Augenblick des Sehens, sah Meshe den ganzen Himmel, als wäre er eine einzige Sonne. Über der Welt und unter der Welt war das ganze Himmelsgewölbe so hell wie die Oberfläche der Sonne, und es war keine Dunkelheit. Denn er sah nicht, was war, und nicht, was sein wird, sondern was ist. Die Sterne, die fliehen und ihr Licht mitnehmen, waren alle in seinem Auge, und all ihr Licht schien zugleich.[4]
Die Dunkelheit liegt nur im Auge des Sterblichen, der glaubt, daß er sieht, aber nicht sehen kann. In Meshes Auge ist keine Dunkelheit.
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Dies ist die mystische Ausdrucksform einer der Theorien, die zur Unterstützung der These von der Expansion des Weltalls benutzt wurden, die zuerst vor über viertausend Jahren von der Mathematikerschule von Sith aufgestellt und später generell von den Kosmologen akzeptiert wurde, obwohl die Wetterbedingungen auf Gethen es unmöglich machen, diese Theorie durch astronomische Beobachtungen zu stützen.