Hinter ihm fuhr der Wind durch die Blätter der Bäume. Er ließ seine Gedanken schweifen und versuchte, weder an die Zukunft noch an die Vergangenheit zu denken. Er wollte einfach nur im Hier und Jetzt leben, solange es irgend ging. Die Vergangenheit schmerzte wie eine Wunde, und die unmittelbare Zukunft gehörte nicht zu den Dingen, die er sich rasch herbeiwünschte. Die einzige Möglichkeit, sich nicht unterkriegen zu lassen, bestand darin, nicht darüber nachzudenken. Sich einfach nur im Wind treiben zu lassen, während sich die Tiere um ihn herum tummelten.
Er lebte jetzt bereits drei Tage auf Holmes Manor, und die Dinge waren seit seinem ersten Erlebnis keinen Deut besser geworden. Das Schlimmste jedoch war MrsEglantine.
Als allgegenwärtiges Schreckgespenst lauerte die Hauswirtschafterin selbst in den abgelegensten Winkeln des Hauses. Wohin auch immer er sich wandte, stets schien sie schon in irgendwelchen dunklen Schatten auf ihn zu warten, um ihn mit ihren runzeligen Äuglein zu taxieren. Seit seiner Ankunft hatte sie kaum drei Sätze zu ihm gesprochen. Soweit er es beurteilen konnte, erwartete man von ihm nichts anderes, als pünktlich zum Frühstück, Mittagessen, Nachmittagstee und Abendessen zu erscheinen. Natürlich schweigend und ohne mehr zu essen als unbedingt nötig, um sich gleich danach wieder bis zur nächsten Mahlzeit in Luft aufzulösen. Nach diesem Schema würde sein Leben bis zum Ende der Ferien verlaufen. Bis Mycroft käme, um ihn aus seiner Haft zu erlösen.
Anna und Sherrinford Holmes – seine Tante und sein Onkel – waren normalerweise beim Frühstück und Abendessen anwesend. Sherrinford war ebenso groß wie sein Bruder und trotz seiner schlankeren Statur zweifellos eine dominante Erscheinung. Er hatte markante Wangenknochen und eine nach vorn gewölbte Stirn, die seitlich an den Schläfen einfiel. Im Gegensatz zu seinem buschigen weißen Bart, der bis auf die Brust herabfiel, war seine Kopfbehaarung so spärlich, dass es für Sherlock so aussah, als wäre jede einzelne Haarsträhne sorgfältig auf die Kopfhaut gemalt und dann mit einer Schicht Glanzlack überzogen worden. Zwischen den Mahlzeiten verschwand er entweder in sein Arbeitszimmer oder in die Bibliothek. Den spärlichen Konversationsfetzen nach zu schließen, die Sherlock aufgeschnappt hatte, verfasste er dort religiöse Broschüren und Predigten für Gemeindepfarrer aus dem ganzen Land. Der einzig nennenswerte Wortwechsel mit seinem Onkel während der letzten drei Tage hatte beim Mittagessen stattgefunden. Plötzlich hatte Sherrinford von seinem Teller aufgeschaut, Sherlock mit Unheil verkündendem Blick fixiert und dann gefragt: »Wie ist es um deine Seele bestellt, Junge?« Sherlock, mit erhobener voller Gabel vor dem Mund, hatte kurz geblinzelt und sich dann glücklicherweise an MrTulley, seinen Lateinlehrer in Deepdene, erinnert. »Extra ecclesiam nulla salus«, verkündete Sherlock, ziemlich sicher, dass das so viel bedeutete wie: »Außerhalb der Kirche ist keine Erlösung.«
Das schien zu funktionieren. Denn Sherrinford Holmes nickte und murmelte »Ah, der heilige Cyprian von Karthago, natürlich«, um sich dann wieder seinem Teller zuzuwenden.
MrsHolmes – beziehungsweise Tante Anna – hingegen war eine kleine, vogelähnliche Frau, die sich in einem Zustand permanenter Bewegung zu befinden schien. Selbst wenn sie saß, flatterten ihre Hände unermüdlich umher, ohne irgendwo länger als eine Sekunde zu verweilen. Dabei redete sie die ganze Zeit, ohne jedoch wirklich mit jemandem zu reden, so weit es Sherlock beurteilen konnte. Sie schien es einfach zu genießen, einen ewigen Monolog zu führen, und sie schien nicht zu erwarten, dass sich jemand daran beteiligte oder auf eine ihrer größtenteils rhetorischen Fragen antwortete.
Zumindest das Essen war passabel – jedenfalls besser als die Mahlzeiten in der Deepdene-Schule. Zum großen Teil bestand es aus Gemüse: Karotten, Kartoffeln oder Blumenkohl, die allesamt, wie er vermutete, auf dem Grund von Manor House angebaut wurden. Aber zu jeder Mahlzeit gab es in irgendeiner Form auch Fleisch, und im Gegensatz zu dem grauen und meist undefinierbaren Knorpelzeugs, das er von der Schule her kannte, war dieses gut gewürzt und lecker. So erfreute Sherlock sich zum Beispiel an Schinkenhaxen, Hähnchenschenkeln, Filets, die – wie man ihm erklärte – vom Lachs stammten, oder bei einer anderen Gelegenheit an großen Fleischstücken, die aus einer in der Tischmitte platzierten Lammschulter herausgetrennt wurden. Wenn er nicht aufpasste, nahm er noch so viel zu, dass er irgendwann wie Mycroft aussehen würde.
Sein Zimmer befand sich oben unter dem Dach. Zwar nicht direkt bei den Bedienstetenunterkünften, aber auch nicht unten bei der Familie.
Entsprechend der Dachneigung fiel die Zimmerdecke von der Tür zum Fenster hin steil ab, was zur Folge hatte, dass man sich nur bückend bewegen konnte. Der Boden bestand aus glatten Dielenbrettern, die mit einem Läufer von fragwürdigem Alter bedeckt waren. Das Bett war ihm insofern vertraut, als es genauso hart war wie das in seiner Schule. Dennoch lag er während der ersten zwei Nächte stundenlang wach. Grund dafür war die Stille. Er war so daran gewöhnt, dreißig andere Jungs schnarchen, im Schlaf reden oder leise vor sich hinschluchzen zu hören, dass er die plötzliche Stille nervenaufreibend fand. Aber als er dann schließlich das Fenster geöffnet hatte, um etwas frische Luft zu schnappen, hatte er festgestellt, dass die Nacht überhaupt nicht still, sondern von vielen feinen Geräuschen erfüllt war. Von da an wiegten ihn Eulengekreische, Fuchsgebell oder unvermittelt aufflatternde Hühner in den Schlaf, die in ihrem Stall hinter dem Haus von irgendetwas aufgeschreckt worden waren.
Der Vorschlag seines Bruders, die Bibliothek zu nutzen und sich dort die Zeit mit einem interessanten Buch zu vertreiben, ließ sich leider nicht in die Tat umsetzen. Denn Sherrinford Holmes verbrachte dort einen Großteil seiner Zeit mit Recherchen für seine religiösen Broschüren und Predigten, und Sherlock hatte Angst, ihn zu stören. Stattdessen unternahm er immer ausgedehntere Streifzüge um das Haus herum. Begonnen hatte er seine Erkundungen mit dem ans Haus grenzenden Grundstück, wozu unter anderem der umzäunte Garten, der Hühnerstall und das große Pflanzenbeet gehörten. Dann hatte er die Steinmauer erklommen, die das Anwesen umgab, war draußen weiter zur Straße vorgedrungen und hatte schließlich seine Wanderungen bis in die alten Wälder ausgedehnt, die hinten an das Grundstück von Holmes Manor grenzten. Früher einmal war er an weitere Märsche gewöhnt gewesen. Denn zu Hause hatte er – alleine oder zusammen mit seiner Schwester – ausgiebig die Wälder der Umgebung erkundet. Aber der Wald hier schien älter und geheimnisvoller zu sein als jene, die er kannte.
»Für so einen feinen Typen aus der Stadt kannst du ja ganz schön stillsitzen, was?«
»So wie du«, antwortete Sherlock, ohne mit der Wimper zu zucken, der Stimme hinter ihm. »Du beobachtest mich schon seit einer halben Stunde.«
»Woher weißt du das?« Sherlock hörte ein dumpfes Geräusch, als ob sich jemand gerade von einem der unteren Baumäste auf den mit Farn überwucherten Waldboden hatte fallen lassen.
»Überall auf den Bäumen um uns herum hocken Vögel. Mit Ausnahme von einem. Und zwar dem, auf dem du gesessen hast. Offensichtlich haben sie Angst vor dir.«
»Denen würde ich nichts tun. Ebenso wenig wie dir.«
Langsam wandte Sherlock sich um. Die Stimme gehörte einem Jungen, der ungefähr in seinem Alter sein mochte, wenn er auch kleiner und gedrungener war als der eher schlaksige Sherlock. Die verstaubte Kleidung des Jungen war an einigen Stellen ziemlich abgetragen und seine Fingernägel starrten vor Dreck. Seine Haare waren so lang, dass sie ihm bis zu den Schultern reichten.