Cathrins Zuhause war hier, wo ihre neugierigen Kinderhände alles hatten anfassen dürfen, auch die Kostbarkeiten, die Katya und Thilo auf ihren Reisen gesammelt hatten.
Ihr Blick fiel auf die indische Schale, von Katya besonders in Ehren gehalten. Wehmütig zeichnete Cathrin die Narben im Porzellan nach. Immer schon war sie von den Fugen fasziniert gewesen, die die Bruchstücke zusammenhielten, und von den Goldtropfen, die verloren gegangene Splitter ersetzten. Ein Versprechen, dass sich alles heilen ließ, das hatte Cathrin verstanden, noch ehe sie solche Gedanken in Worte fassen konnte.
Dieses Mal würde es nicht so sein.
Bis in den letzten Winkel durchdrang Thilos Gegenwart das Haus. Als ob er im Sessel sitzen würde, sobald sie sich umdrehte, eine Zeitung auf den übereinandergeschlagenen Beinen, eine Tasse Tee neben sich. Oder drüben im Arbeitszimmer an seinem Schreibtisch, unter dem die kleine Cathrin so oft gespielt hatte und wo sie dann auf seinen Schoß geklettert war, um sich von seinen Kalkulationen erzählen zu lassen, die ihr genauso bunt und spannend vorgekommen waren wie Katyas Märchen.
Die Leere, die sie stattdessen vorfand, war ein Kahlschlag in der Seele. Kein Wunder, dass Katya dem entfliehen wollte.
Cathrin trat durch die verglaste Tür ins Freie. Nicht in eine dieser aufgeräumten Parklandschaften mit ausgezirkelten Blumenrabatten, mit denen die Bürger der Hansestadt Geld und Geschmack demonstrierten. Dies war ein Garten Eden, in dem Hennen frei herumscharrten und zufrieden glucksten. Wo alles saftig wuchs und dazu einlud, daran zu schnuppern oder davon zu kosten, bevor es im Haus auf den Tisch kam. Sogar die Rosen des Sommers waren Bauernsorten, deren sonnenpralle Hagebutten die Speisekammer über den Winter mit Marmelade füllten.
Ein Paradies für ein Kind wie Cathrin, das es liebte, zwischen den Fingern Löwenmäulchen auf- und zuschnappen zu lassen, mit Butterblumen, Klee und Gänseblümchen ein Bankett für ein Feenvolk auszurichten und Schmetterlingen nachzuspringen.
Auch in diesem Frühling stand der alte Apfelbaum wieder in voller Blüte, eine irdische Wolke aus Duft und Bienengesumm. Eine von Cathrins frühesten Erinnerungen lag unter diesem Baum: In einem kurzen Spielkleid hatte sie auf der Erde gesessen, das Gras an ihren nackten Beinchen genauso herrlich wie die saftigen Apfelschnitze, die Katya ihr einen nach dem anderen reichte. Und als Thilo sie dann auf seine Schultern gehoben hatte, war sie der Sonne so nahe gewesen, dass sie vor lauter Glück kiekste, Thilos Lachen warm in ihrem Bauch vibrierend.
Cathrin legte den Kopf in den Nacken. Das Baumhaus war noch da. Eigentlich eine stabile Gemüsekiste aus dem Gemischtwarenladen, eine Wand herausgetrennt und dann von Thilo zwischen die stärksten Äste montiert. Ein Krähennest, von dem aus Cathrin ihre Blicke bis auf die Elbe und die Schiffe hatte schweifen lassen. Ihr Lieblingsplatz, um zu lesen oder einfach die Beine baumeln zu lassen und von Abenteuern in fernen Ländern zu träumen, von denen sie mit Schätzen wie denen aus Ali Babas Höhle zurückkehrte und aus Petersen & Voronin ein weltumspannendes Imperium machte, in dem es alles zu kaufen gab, was das Herz begehrte.
Cathrin versetzte der Schaukel unter dem Apfelbaum einen Stoß, das abgeschürfte Holz, das leere Pendeln wie ein Sinnbild für Vergänglichkeit. Ein Nimmermehr, das nicht zu ertragen war.
Schritte näherten sich, raschelnd im Gras, und einige Herzschläge lang klammerte Cathrin sich an die wahnwitzige Hoffnung, alles könnte nur ein Irrtum gewesen sein. Ein böser Traum, aus dem Thilo sie herausholte, indem er sie an sich drückte und versprach, dass er noch viele Jahre vor sich haben würde.
Doch es war Katya, die in ihrer Witwentracht durch den Garten auf sie zukam. Jeglicher Vorsatz, angesichts von Katyas eigenem Schmerz tapfer zu sein, zerstob, und an Katyas Schulter ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Geborgen in gemurmelten Zärtlichkeiten wie damals, wenn sie sich die Knie aufgeschlagen hatte oder im Streit mit sich selbst und der ganzen Welt lag, das Russische wie Cathrins eigentliche Muttersprache, weil es Katyas Sprache war.
Die Gesichter im Wind, schlenderten sie am Elbufer entlang, ihre Fußabdrücke im weichen Grund nie weit voneinander entfernt und bald schon wieder unsichtbar. Ausgelöscht von den Rinnsalen, die das Wasser durch den Sand zog, fein verzweigte und endlose Labyrinthe, glänzend und glimmernd wie fließendes Metall.
Unwillkürlich hielt Cathrin nach besonderen Steinchen Ausschau, nach Meerglas und den geriffelten Muscheln mit der leuchtend fliederfarbenen Innenschale. Obwohl sie doch wusste, dass sie an Land schnell ihren Glanz verloren, ihre Farbigkeit.
Genauso waren sie hier an jenem Tag spazieren gewesen, von dem sie nicht hatten wissen können, dass es der letzte sein würde. Katya und Marie hatten die Vögel am Strand beobachtet, während Thilo und Cathrin über das Leben im Allgemeinen und Geschäfte im Besonderen sprachen.
Sie musterte ihre Tante, die wie so oft keinen Hut, keine Handschuhe trug. Das nachtschwarze Haar war zu einem schlichten Knoten geschlungen, die weißen Strähnen darin wie die Fehlfarbe im Gefieder eines Raben. Erstaunlich gefasst wirkte sie, aber Katya kehrte ihr Innerstes selten nach außen. Im feinen porzellanhellen Gesicht, von der Zeit nahezu unberührt geblieben, erzählten jedoch die Schatten unter den frostblauen Augen von Kummer und unruhigen Nächten, eine Spur von Erde unter den Fingernägeln davon, wie tief sie im Garten gegraben hatte, um Halt zu finden.
Cathrin kannte niemanden, der stärker und unabhängiger war. Undenkbar, dass eine Hamburger Bürgersfrau ohne männliche Begleitung auf einen Kaffee, einen Tee ausging. Katya tat es, und niemand wagte es, ihr einen Platz allein am Tisch zu verwehren. Und genauso selbstverständlich hatte Katya sich zwar zuerst zurückgezogen, wie man es von einer Witwe erwartete, aber bereits wieder ihre Tasche gepackt.
»Wohin fährst du?«, fragte Cathrin.
»Nach Tromsø.«
Cathrin hatte die unbeschwerten Spätsommer dort nicht vergessen. Wo sie frei über die Wiesen und Hügel gerannt war, so weit ihre Beine sie trugen, unter einem Himmel, der so viel höher und weiter war als hier, und wann immer sie ins Gästehaus zurückkehrte, hatte sie sowohl den Bauch als auch ihren geschürzten Rock voller Multbeeren gehabt. Mit Magnus, mehr ein großer Bruder denn ein entfernter Cousin, war sie auf das Meer hinausgesegelt, um Wale zu sehen und nicht nur zu lernen, wie man angelte, sondern hinterher auch die Fische auszunehmen.
Bis heute war Weihnachten erst dann vollkommen, wenn Silja Guðmundsdóttir, auf zweckmäßig liebevolle Art wie eine echte Großmutter für Cathrin, ein Paket mit Marmeladegläsern schickte, mit einer Trachtenbluse oder etwas Selbstgestricktem, norwegisches Lakritz und pepperkaker, die viel besser schmeckten als deutsche Pfefferkuchen, mit dem Salz des Meeres und klarer Bergluft gewürzt.
Wo sonst ließe sich jetzt Frieden und Heilung finden, wenn nicht in dem Gästehaus mit Blick auf den Sund. In dieser beschaulichen kleinen Welt für sich, hinter Bergen und Fjorden versteckt, in der die Zeit zwar nicht stehen geblieben war, aber gemächlicher verstrich.
»Nimm mich mit.«
Katya zögerte. »Ein anderes Mal. Ich muss jetzt ein wenig klein und schwach sein, weißt du. Und das kann ich nicht, wenn du bei mir bist.«
Vierundfünfzig war sie mittlerweile, und schien sich doch wie ein Kind nach dem Trost zu sehnen, den nur eine Mutter geben konnte.
Cathrin nickte, das verstand sie. Wie sie es immer verstanden hatte, wenn Katya Nein sagte.
Für Cathrin hatte es nie Zweifel gegeben, wer ihre leiblichen Eltern waren. Und trotzdem hatte sie sich früher ausgemalt, Katya wäre ihre wirkliche Mutter, Thilo ihr richtiger Vater, sie war ihm ja wie aus dem Gesicht geschnitten. Tagträume, in denen Henny eine böse Fee war, die Katya das Kind mit dem Silberhaar neidete. Mit wohligem Schaudern hatte sie diese Geschichten weitergesponnen, ungeachtet aller Lücken, Widersprüche und Sackgassen, bis der logische Verstand schließlich ihre kindliche Fantasie einholte.